1168 - Nach den Regeln der Hölle
war dieses nicht Fassbare, die Botschaft eines Toten.
Die Kraft des im Grab liegenden Vaters durchströmte sie, und sie merkte, wie sich ihre Sicht veränderte. Sie war zwar im Prinzip die gleiche geblieben, aber Alina war jetzt in der Lage, mehr zu sehen. Hinter dem normalen Gesicht schimmerte jetzt das zweite, das echte durch. Die Fratze des Drachens, die noch verschwommen wirkte.
Und noch eine Überraschung erwischte sie. Es hing mit ihrer Mutter zusammen, die sich noch immer im Griff ihres Schwagers befand. Jetzt lockerte er ihn, so dass sich Michelle Wade aufrichten konnte. Sie warf durch eine Kopfbewegung ihr graues Haar zurück und lachte Alina ins Gesicht.
»Willkommen in der Familie!« begrüßte sie die Tochter höhnisch…
***
Alina Wade stoppte und sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Gedanken vertreiben. Dabei richtete sie ihren Blick auf die Frau, die um die 50 Jahre alt sein musste und von den Gesichtszügen her keine Ähnlichkeit mit der Tochter aufwies. Das Gesicht der Michelle Wade war gezeichnet von einem harten Leben, aber es sah auch böse aus. Ein stechender Blick, der nichts Gutes verhieß, sondern einzig und allein Hass.
»Da bist du also, Tochter. Endlich sehe ich dich, nachdem ich dich geboren habe.«
Alina wunderte sich darüber, wie cool sie trotz allem blieb. Sie sah die Frau auch nicht als Mutter an und erwiderte nur: »Das hättest du alles schon früher haben können. Aber du wolltest mich nicht, und du wolltest deinen Mann nicht.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Wer schon?«
»Er lügt. Dein verfluchter Vater ist ein. Lügner. Nicht ich bin verschwunden, ich musste gehen. Er hat mich einfach weggejagt. Er gab mir Geld. Dann musste ich verschwinden. Ich wollte nicht. Ich habe ihn angefleht und gebettelt. Ich habe vor ihm auf den Knien gelegen, aber er hat mich nicht erhört. Er wollte mich nicht. Ich hatte meine Pflicht getan, und dann bin ich gegangen, weil ich Angst davor hatte, von ihm umgebracht zu werden.«
Alina konnte es nicht glauben. Bisher hatte sie nur die Version ihres Vaters gehört, aber sie war auch alt genug, um zu wissen, dass es zwei Seiten gab. Das erzählte sie ihren Kindern im Hort auch ständig, und jetzt erlebte sie es am eigenen Leib.
»Als ich hörte, dass Henry nicht mehr lebte, war ich verdammt froh. Und so stellte sich das Schicksal endlich um. Ich war immer nur von ihm gebeutelt worden, doch es trat plötzlich ein Mann in mein Leben, den ich schon vergessen hatte: dein Onkel Dorian. Einer, der mehr ist als nur ein Mensch. Einer, der das gleiche Schicksal hinter sich hat wie dein Vater. Aber auch einer, der das Schicksal angenommen hat und nicht vor ihm geflohen ist. Als ich hörte, dass er meinen Mann getötet hat, war ich über diesen Brudermord entzückt, und so bin ich zu einer späten Rache gekommen und habe sogar die Chance, meine Tochter zurückzubekommen.« Sie lächelte, was ihr Gesicht jedoch nicht weicher machte, denn der harte Ausdruck blieb. »Du bist sehr hübsch geworden, Alina. Zwar wirst du es mir kaum glauben, aber ich war vor vielen Jahren ebenfalls mal so hübsch wie du. Sogar die Haarfarbe passte. Dann aber fing mein zweites Leben an, und ich wusste oft nicht, was ich essen oder trinken sollte. Ich habe im Abseits gelebt, im verdammten Abseits, im Dreck, aus dem mich dein Onkel wieder hervorgezogen hat. Er, du und ich - wir sind jetzt die neue Familie.«
Alina hatte zugehört, ohne eine Zwischenfrage zu stellen. Sie hätte sich eine Begegnung dieser Art nie vorstellen können. Vor allen Dingen nicht, was daraus folgte, und sie wurde plötzlich von einem regelrechten Schwindel erfasst. Sie hatte das Gefühl, in ein Loch gedreht zu werden. Es stürmte alles auf sie ein. Erst das Erbe des Vaters, dann dieser Vorschlag, in die Familie hinein integriert zu werden. Es war zu viel für sie, aber sie wehrte sich nicht und tat auch nichts, als Michelle auf sie zukam und dicht vor ihr stehen blieb.
Die für Alina fremde Frau roch nach Erde. Nach Feuchtigkeit. Irgendwie nach Grab.
Sprechen konnte Alina nicht. Sie wollte es auch nicht. Sie schrak nur zusammen, als die kalten Fingerspitzen ihrer Mutter zart wie Spinnenbeine an der Haut auf den Wangen entlangglitten. »Du bist mein Fleisch und Blut, Alina, ob du es nun wahrhaben willst oder nicht. Damals habe ich nicht gewusst, mit wem ich mich einließ. Dein Vater war kein normaler Mensch. Es wurde mir leider zu spät klar, als er mich verstoßen hatte. Aber ich habe nichts
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