1172 - Die Macht des Kreuzes
glitten auch zu den Rängen der Zuschauer hoch. Die meisten Menschen hatten sich von ihren Sitzen erhoben. Noch immer waren ihre Blicke auf die schwarzen Raubtiere gerichtet, von denen sich keines hinlegte.
Sie würden den Käfig verlassen müssen, und ich fragte mich, wer sich zutraute, sie in den Gang zu locken. Es musste jemand am Ende des Gittergangs geben, denn ich hörte von irgendwoher scharfe Rufe. Auch die Raubkatzen hatten sie vernommen. Plötzlich war der Käfig nicht mehr interessant. Etwas musste sie mehr locken. Es konnte eine Beute sein, ich wusste es nicht. Jedenfalls rotteten sie sich zusammen und liefen hintereinander durch den Gittergang in ihre Käfige hinein.
Zurück blieb eine Manege, in der es kein Tier mehr gab. Nur ein paar Blutflecken auf dem Boden erinnerten daran, dass hier ein Mensch angegriffen worden war.
Ich hatte wirklich nicht viel getan, dennoch fühlte ich mich ziemlich erschöpft. Ebenso wie Glenda, denn als ich mich drehte, schaute sie mich für einen Moment an und fiel mir in die Arme.
»John, das war…«, sie fand keine Worte mehr.
»Keine Sorge, wir haben es geschafft.«
»Und Emily White?«
»Wird wohl auch weiterhin ein Problem bleiben.«
Sie löste sich von mir und trocknete mit einem Taschentuch ihre schweißnasse Haut auf dem Gesicht. Dann strich sie über mein Gesicht.
»Das hast du toll gemacht.«
»Ich? Nein! Das war nicht nur ich, das waren wir alle. Du und ich, wir haben Winter aus dem Käfig gezogen, und den Kratzer wird er auch überstehen.«
»Ist zu hoffen.«
Ich hatte damit gerechnet, dass der Käfig abgebaut wurde, doch da irrte ich mich. Und ich erlebte, wie man im Zirkus arbeitet. Es war ähnlich wie beim Theater. Was auch passierte, die Schau musste weitergehen. Die Menschen hatten bezahlt. Sie hatten einen Anspruch darauf, das Programm zu sehen, und das wurde nicht nur uns, sondern auch ihnen deutlich klargemacht.
Den Sprecher sahen wir nicht. Wir hörten nur seine Mikrofonstimme, die jeden Winkel des Zelts erreichte. Der Mann entschuldigte sich für den Vorfall und erklärte, dass so etwas eben passieren konnte, denn die Show war live. Er brachte den Tenor seiner Rede dahin, dass dies eben das besondere Prickeln einer Zirkusvorstellung ausmachte und durch nichts ersetzt werden konnte.
»Und das Programm geht weiter!«, rief er. »Freuen Sie sich auf die Herren der Lüfte. Auf vier Akrobaten und Trapezkünstler, die den Tod nicht scheuen und Ihnen eine Vorstellung bieten, die nichts für herzkranke Zuschauer ist. Ich sage nur einen Namen: Die Santinis.«
Glenda und ich hatten die Worte noch mitbekommen. Bevor wir die Manege verlassen konnten, mussten wir zur Seite treten, denn die vier Santinis liefen ein.
Dunkelhaarige junge Männer. In hautenger Glitzerkleidung. Mit Gesichtern, die Anspannung zeigten, auf denen das Lächeln wie eingefroren wirkte. Sie nahmen den Beifall, der sie schon orkanartig erwischte, gern entgegen, und als wir uns kurz umdrehten, bekamen wir mit, wie von oben her eine Strickleiter nach unten gesenkt wurde und dicht über dem Käfig zum Stillstand kam.
»Willst du dir die Nummer anschauen?«, fragte Glenda.
»Kein Bedarf.«
»Ich auch nicht.«
So verließen wir endgültig die Manege und waren froh, dass die schweren Vorhänge hinter uns zusammenfielen.
Hier war eine andere Welt. Zwar hielten sich die gleichen Zirkusmenschen in der Nähe auf, aber der Glitzer und Glamour war verschwunden. Es gab nur so viel Licht wie eben möglich, und es gab auch nur ein Thema, das interessierte.
Jeder fragte sich, wie das alles hatte passieren können. Bisher hatte es nie einen Unfall gegeben. Es war alles glatt über die Bühne gelaufen, und wir hörten dass Harald Winter einer der besten Dompteure überhaupt auf der Welt war.
Es ging auch um das Auftauchen der jungen Emily White. Man kam nicht da mit zurecht. Wir wurden angeschaut, man erwartete von uns, dass wir etwas sagen, aber wir hielten uns zurück.
Der Geruch von Kaffee erreichte meine Nase. Wir gingen zu einem kleinen Stand, wo eine ältere Frau Kaffee ausschenkte. Vor uns standen die beiden Männer, die die Eisenstangen gehalten hatten. Sie berichteten der Kaffeeausgeberin, was passiert war, und die ältere Frau hörte genau zu. Ich erhaschte einen Blick auf ihr Gesicht und stellte fest, dass sie sehr dunkle und irgendwie geheimnisvolle Augen hatte, in deren Pupillen sich das Licht einer leicht schaukelnden Glühbirne fing.
»Darf ich auch zwei Becher haben?«,
Weitere Kostenlose Bücher