1172 - Die Macht des Kreuzes
Versprechen gehalten?«, fragte sie leise.
»Das hast du!«
»Jetzt bin ich endlich da, wo ich sein wollte. Ich bin erfüllt mit einer Kraft, wie ich sie niemals zuvor erlebt habe. Ich habe nicht mal daran gewagt zu denken, dass es so etwas gibt. Ich kann nicht beschreiben, wie wunderbar das ist.«
»Doch, das glaube ich dir.«
»Dann kannst du jetzt gehen, John Sinclair. Und nimm Glenda mit. Alles musste so kommen.«
Ich gab mich demütig. »Du hast Recht, Emily, wir werden auch gehen. Da ist nur noch eine Kleinigkeit zu regeln.«
»Welche denn?« Plötzlich stand sie unter Spannung.
»Du hast jetzt das Kreuz, aber du bist nicht der Sohn des Lichts. Und somit auch nicht die legitime Erbin. Ich bin der Erbe, verstehst du? Das Kreuz kann und darf einfach keinem anderen gehören. Ich will nicht von unwürdig sprechen, aber so ähnlich ist es.«
»Was meinst du damit?«
»Man muss es aktivieren können, um seine volle Kraft zu erhalten. Das kannst du leider nicht.«
»Ach ja…?«
»Hör zu!« Und in den nächsten Sekunden spielte ich meinen letzten Trumpf aus. Wenn das Kreuz sich in falschen Händen befand, würde es sich entsprechend verhalten. So sprach ich die Formel, und Emily hörte mir gespannt zu.
»Terra pestem teneto - salus hie maneto!«
Genau da war ihr Schicksal!
Nein, sie war nicht die Erbin. Sie konnte es nicht sein. Aus dem Kreuz in ihrer Hand wurde ein in gleißendes Licht gehüllter Gegenstand, dessen Form nicht zu erkennen war. Wie ein glühendes Stück Eisen musste Emily das Kreuz vorkommen, dessen Kraft sich nicht allein auf ihre Hand beschränkte, sondern ihren Weg fand und durch den Körper raste wie eine helle Flamme.
Es war wie ein heiliger Strom, der den Halbengel erfasste. Im Licht malte sich ihre Gestalt ab, und sie stand auf der Schwelle wie festgewachsen. Sie hielt den Mund weit offen. Nur drangen keine Schreie daraus hervor. Sie war zu einer in Licht getauchten blassen Gestalt geworden, die von der Macht des Kreuzes zerrissen wurde.
Emily starb.
Und sie starb vor unseren Augen auf ihre Art und Weise. Die Macht des Kreuzes war zu stark gewesen. Sie übersprang mehrere Vorgänge der Verwesung und sorgte dafür, dass ihr Körper noch auf dem Boden stehend zu einem hellen Engelstaub wurde. Und wie eine aus Sand geformte Gestalt sackte sie vor unseren Füßen zusammen, als wäre sie von einem Windstoß erfasst worden. Mit ihr fiel das Kreuz nach unten, das ich auffing, bevor es den Boden erreichte.
Ich drehte mich um. Ich stand im Staub. Meine Augen leuchteten, und auf meinem Gesicht malte sich der Triumph des Siegers ab.
Glenda sah mich an. Noch nie zuvor hatte ich diesen Blick bei ihr gesehen. Es war auch nicht zu beschreiben. Sie hatte einen Wunsch, wagte jedoch nicht, ihn auszusprechen und streckte mir nur die rechte Hand entgegen.
Ich wusste, was sie wollte.
Deshalb gab ich ihr das Kreuz.
Sie schaute es an. Ihre Lippen zitterten, und dann küsste sie es mit einer innigen Dankbarkeit, während Tränen über ihre Wangen rollten…
***
Ob Harold Winter, Mirko und auch Dr. Foster von ihrer Blindheit geheilt werden konnten, das wusste keiner von uns zu sagen. Jedenfalls hatte ich einen Arzt alarmiert, der sich um Winter und Mirko kümmerte, bevor ich ihn zur Klinik schickte, zusammen mit uniformierten Kollegen, die ebenfalls alarmiert worden waren.
Natürlich herrschte jetzt Aufruhr bei den Mitarbeitern. Und es war die alte Anita, die für Ruhe sorgte. Mit ihr hatte ich kurz sprechen können und sie in etwas eingeweiht. Sie wusste, dass niemand etwas von Emily zu befürchten hatte.
Irgendwann zog mich Glenda zur Seite an eine ruhige Stelle, Sie konnte es noch immer nicht richtig fassen, aber sie sprach das eigentliche Thema nicht an, sondern fragte, während sie zum dunklen Himmel schaute: »Wo mag sie jetzt sein?«
Ich hob die Schultern.
»Bei den Sternen? Bei den Engeln?«
»Nicht bei den Engeln, denke ich. Da gehört wohl mehr zu, um dorthin zu gelangen.«
Glenda nickte. »Ja, du kannst Recht haben. Trotzdem tut mir Emily irgendwie leid. Sie war eben anders als die sonstigen Gegner, mit denen wir zu tun haben.«
Ich nahm Glenda in den Arm und sagte abschließend: »Wir wollen ihr den Frieden lassen, wie auch immer der aussehen mag…«
»Ja, das wünsche ich ihr auch…«
ENDE des Zweiteilers
[1] Siehe John Sinclair Nr. 1171 »Emilys Engelszauber«
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