1178 - Die vierte Weisheit
Ambush, der Pararealist. Wie ein Gespenst bewegte sich das kleine, schmächtige Männchen mit dem übergroßen Schädel und den asiatischen Gesichtszügen durch die ausgestorbenen Hallen und Gänge des Flaggschiffs, und von Zeit zu Zeit tauchte es im Beobachtungsraum auf, um sich über den Fortschritt des Genesungsprozesses zu informieren.
Sato Ambush und der von ihm entwickelte Wissenschaftszweig, die Pararealistik. waren lange Zeit belächelt, von humorlosen Fachleuten sogar in Grund und Boden verdammt worden. Es mochte sein, daß der Mensch, der unter normalen Umständen vor sich hin lebte, kaum Verwendung für die mitunter obskur anmutenden Theoreme der Pararealistik hatte. Aber hier, im Bereich des Loolandre, war das, was man normale Umstände nannte, so weit entfernt wie der Schnee vom Blätterdach tropischer Wälder. Sato Ambush war der erste gewesen, der anhand seiner Theorie erkannt hatte, was hier gespielt wurde. Die Pararealistik erklärte nicht nur, wie das psionische Feld im Bereich des Loolandre auf die Bewußtseine intelligenzbegabter Wesen wirkte - das konnte die konventionelle Wissenschaft auch -, sie machte darüber hinaus verständlich, warum auch anorganisches Gerät wie Roboter, Orter und Taster dem verwirrenden Einfluß erlagen und Dinge wahrnahm, die auf der dem Menschen vertrauten Wirklichkeitsebene gar nicht existierten.
Sato Ambushs Ruf war seitdem unantastbar. Daran änderte auch der Umstand nichts, daß außer ihm niemand etwas von Pararealistik verstand, mit Ausnahme vielleicht der Hamiller-Tube, die die ihr von Ambush überlassenen Unterlagen aufmerksam studiert hatte. Es gab viele, die seit den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit ernsthaft willens waren, sich mit der neuen wissenschaftlichen Disziplin zu beschäftigen. Aber Chmekyr und die unheimlichen Vorgänge im Vorfeld des Loolandre hielten sie so beschäftigt, daß ihnen keine Gelegenheit blieb, ihrem akademischen Ehrgeiz zu frönen.
Gesil sah auf, als Sato Ambush vorsichtig die Tür öffnete und auf der Schwelle stehenblieb.
„Komm herein", forderte sie den schmächtigen Terraner mit sanfter Stimme auf. „Du störst niemand."
Sato warf einen kurzen, forschenden Blick auf die große Bildfläche, dann folgte er der Aufforderung und schloß die Tür hinter sich. Nachor, der Armadaprinz, war in einen Zustand der Starre versunken und hatte sich seit über zwei Stunden nicht mehr bewegt.
Gesil nahm an, das sei eine Ruheposition. Sie hatte nicht versucht, den Einäugigen anzusprechen. Jercygehl Ans derzeitige Verfassung war leichter zu deuten. Der massige Cygride war in seinem Sessel in sich zusammengerutscht. Aus seinem Trompetenkinn kamen rhythmische, schnaufende Laute. Jercygehl An schlief den Schlaf des Gerechten.
„Er wird bald wieder bei uns sein", sagte der Pararealist mit unterdrückter Stimme. „Nur ein kleines Hindernis hat er noch zu überwinden, dann kommt er zu sich."
„Du weißt das alles?" fragte Gesil erstaunt.
„Es ist berechenbar", antwortete Sato Ambush bescheiden.
„Die Zukunft ist berechenbar?"
„O nein, nicht die Zukunft schlechthin. Wohl aber Perry Rhodans Genesung. Es gibt da kausale Zusammenhänge - parakausale, möchte man eher sagen, denn sie beziehen sich auf mehr als eine Wirklichkeitsebene. Perry Rhodans Verwundung war eine Station innerhalb eines sorgfältig geplanten Ablaufs."
„Dann stand von vornherein fest, daß er nicht sterben würde?"
Sato Ambush bedachte Gesil mit einem merkwürdigen Blick.
„Das steht noch nicht einmal jetzt fest", antwortete er im Tonfall eines Lehrers, dem es schwerfällt zu begreifen, wie sein Schüler so begriffsstutzig sein konnte. „Der Ablauf läßt vielerlei Möglichkeiten zu, darunter ein Ableben Perry Rhodans. Aber dazu wird es nicht kommen."
„Nein?"
„Bestimmt nicht." Sato Ambush schüttelte den Kopf. „Er ist auf dem richtigen Weg. Es gibt, wie gesagt, nur noch eine Klippe. Ich werde ihm helfen, ihr aus dem Weg zu gehen."
„Wie willst du das anfangen?"
Der Pararealist antwortete nicht. Als Gesil sich nach ihm umsah, sah sie, daß er auf dem Boden kauerte und die Augen geschlossen hatte. Er hockte mit untergeschlagenen Beinen in einer Position, die in einer alten terranischen Lokalsprache „seiza" genannt wurde. Er machte einen entspannten Eindruck. Die Hände ruhten auf den Oberschenkeln.
Seine Atemzüge waren tief und ruhig.
Gesil rutschte tiefer in ihren Sessel. Sato Ambushs Worte hatten sie beruhigt. Es bestand keine
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