1183 - Visionen der Hölle
näher gekommen. Dem eigentlichen Ich, das mit dem, was sie im Spiegel sah, nicht viel zu tun hatte. Da gab es schon etwas anderes, das sehr tief in ihr hockte und intervallweise geweckt wurde. War das der Grund, weshalb Menschen oft schreiend vor ihr weggelaufen waren, um irgendwo wie im Wahnsinn zu enden?
Doria wusste es nicht. Es war auch nicht der Augenblick, um über genaue Erklärungen nachzudenken. Sie hockte erschöpft auf dem Stuhl und war froh darüber, den Rücken gegen die Lehne drücken zu können. Sie wollte über ihr Leben nachdenken. Zumindest über das, was sie nach außen hin zeigte, aber die Gedanken konnte sie nicht kontrollieren. Sie bewegten sich in eine andere Richtung und schufen einen Begriff, der sie ängstigte und zugleich faszinierte.
Ich bin im Werden!
Was immer das auch bedeuten mochte, es wollte einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden.
Im Werden!
Sie schaute in den Spiegel. Schüttelte den Kopf und dachte daran, dass sie schon geworden war. Sie brauchte nur in den Spiegel zu schauen, um ihren perfekten Körper zu sehen, aber sie war trotzdem im Werden. Da kam noch etwas.
Natürlich, die Erinnerungen an das Geschehene ließen sie nicht los. Die Fratzen und auch die Gesichter. Hinzu kam das viele Blut, das aus dem Spiegel gespritzt war. Eigentlich hätte es ihren Körper bedecken müssen, doch wohin sie auch schaute, sie sah nur ihre normale, glatte und wunderschöne Haut.
»Bin ich perfekt?«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. »Bin ich wirklich perfekt?«
Doria erhielt keine Antwort. Sie saß weiterhin unbeweglich und konzentrierte sich nur auf ihr Gesicht. Nein, es war keine Veränderung zu erkennen. Und doch gab es da etwas tief in ihrem Innern, das eine andere Sprache redete. Sie wusste nicht, ob es sich um eine Stimme handelte oder nur um ein Gefühl. Möglicherweise beides. Der Druck in ihrem Kopf verstärkte sich. Er musste durch ihre schweren Gedanken ausgelöst worden sein. Sie kannte die Qualen, mit denen sie zu kämpfen hatte, aber sie wollte nicht einsehen, dass sie auch eine andere Person war als die, die sich im Spiegel zeigte.
Obwohl es auf der anderen Seite wieder spannend war, so etwas zu sehen. Mit einem normalen Menschen verglich sie sich schon längst nicht mehr, dazu hatte sie nicht gehört, doch ihr Erleben überstieg die Normalität bei weitem.
»Ich nehme mich so an«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. »Ich werde mich so annehmen, was immer sich auch in meinem Kopf und Körper befindet…«
Das Spiegelbild nickte ihr zu.
Wieso nickte?
Etwas wie Alarmsirenen schrillten in ihrem Kopf. Das war unmöglich, denn sie selbst hatte nicht genickt. Nur das verdammte Spiegelbild hatte diese Bewegung geschafft.
Für einen Moment hatte sie die Augen geschlossen. Jetzt schaute sie wieder hin.
Doria sah sich und die andere Person!
Die Augen verwandelten sich in Kugeln, so rund wurden sie. Der kalte Schreck nistete sich darin fest, denn sie schaute sich zwar noch an, aber das war nicht mehr sie.
Ihr Gesicht hatte einen anderen Ausdruck erhalten. Es war männlicher geworden. Härtere Züge.
Eine leicht gebogene Nase, Wangen, auf denen Schatten lagen, die sie noch nicht zuvor gesehen hatte. Sie hätte sich nicht vorstellen können, dass es so etwas überhaupt gab. Es war ihr so unheimlich, und sie war nicht in der Lage, eine Erklärung abzugeben.
Das andere Gesicht sah für sie aus, als wäre es in die Spiegelfläche hineingezeichnet worden. Scharfe Umrisse, die sich vom Hintergrund abhoben. Ein Mund, dessen Lippen schmal waren, und unter denen sich ein kräftiges Kinn abzeichnete.
Das alles bildete sie sich nicht ein. So etwas existierte wirklich. Und sie stellte auch fest, dass das Gesicht im Spiegel keiner anderen Frau gehörte.
Mehr einem Mann!
Aber einem, der trotzdem die Züge einer Frau aufwies. Einem Mittel zwischen Mann und Frau. Zur einen Hälfte weiblich, zur anderen männlich.
»Ich bin im Werden!«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.
Noch immer erfasste sie den Begriff nicht ganz genau, aber er stimmte.
Sie wurde.
Sie wurde zu einer anderen Person, obwohl sie die möglicherweise schon war.
Doria stöhnte auf. Mit den Visionen hatte sie sich noch anfreunden können, nicht aber mit dem völlig Neuen. Mit dem Werden. Mit dem sich Verändern.
Darin sah sie keinen Sinn, keine Logik, kein Begreifen an sich. Sie atmete tief durch und war froh, dass dies noch alles so herrlich normal ablief.
In diesem Moment rammte jemand die Tür auf.
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