1183 - Visionen der Hölle
Tiefe vorhanden war, und doch konnten diese Augen einen so zwingenden Blick ausstrahlen, dass Menschen in ihren Bann gerieten.
Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Auf dem Kommodentisch standen einige Fläschchen und ein gläserner Zerstäuber. Beides schob sie zur Seite, um Platz genug zu haben.
Sie machte ihre Arme lang und berührte mit den Fingerspitzen die Spiegelfläche. Es tat ihr gut. Es war so wunderbar. Sie fuhr über die helle Fläche hinweg und hatte dabei das Gefühl, dass dieser Spiegel einen Inhalt besaß. Irgendetwas verbarg sich dahinter und drang so weit vor, dass sie es auch ertasten konnte.
Es war eine Wärme, die bei ihr ein Kribbeln verursachte. Etwas Wunderbares, das man mit Worten nicht beschreiben konnte, ihr jedoch eine gewisse Sicherheit gab. Sie liebte diesen Spiegel, und sie liebte sein Geheimnis.
Quint interessierte sie nicht mehr. Er würde kommen. Sollte er ruhig, sie hatte ihn gewarnt. Für alles andere würde sie keine Verantwortung übernehmen.
Doria flüsterte leise Worte. Es musste einfach aus ihr heraus, als hätten die Worte schon lange in ihrem Innern gekocht, und sie sprach sie zu sich selbst und gegen den Spiegel.
Was sie sagte, konnte sie nicht verstehen. Auch ein fremder Zuhörer hätte sich nur gewundert. Doria redete in einer Sprache, die sich kaum mehr menschlich anhörte. Sie klang an gewissen Stellen guttural, dann wieder schrill und auch hämisch.
Ein Kenner hätte sie als Beschwörungen bezeichnet, womit er sicherlich nicht falsch lag.
Die Frau mit den rotblonden Haaren ließ sich nicht beirren. Sie redete ununterbrochen, wobei sie das Gefühl hatte, als würden ihre Worte von der Fläche des Spiegels aufgesaugt.
Sie sah sich selbst.
Aber sie sah sich auch verändert. Ich bin es, dachte sie, ja ich bin es, aber im Spiegel nicht mehr so richtig. Ihr Gesicht hatte eine breitere Form angenommen, und es hatte gleichzeitig seine Dichte verloren. Etwas kam auf sie zu. Etwas, das nicht sichtbar war, hatte sich aus dem Spiegel gelöst oder hatte sich in ihr Konterfei hineingedrückt.
Eine Fratze.
Etwas aus den Untiefen der Hölle. Ein Produkt des Wahnsinns. Blut spritzte plötzlich innerhalb des Spiegels in die Höhe. Es war eine gewaltige Fontäne, die sich teilte und in die verschiedenen Richtungen wegjagte.
Im nächsten Augenblick schlugen ihr die Flammen entgegen. Es war ein sprühendes Feuer, dem sie nicht ausweichen konnte. Es fiel über sie hinweg, und sie wusste nicht, ob es sich nur im Spiegel hielt oder auch schon nach außen seinen Weg gefunden hatte. Wie eine große Blume platzte ihr das Feuer entgegen. Doria starrte in das Zentrum hinein, das seltsamerweise heller war.
Dort sah sie die Fratzen!
Grässliche Gesichter. Kalt und böse. Manche zu monströsen Abarten verformt, andere wiederum sehr glatt und fast schon schön zu nennen. Sie sah sich selbst. Sie sah sich in das Feuer eintauchen, und sie spürte an ihrem Körper überall ein Ziehen.
Innerhalb des Feuers, das die gesamte Spiegelfläche einnahm, erkannte sie ihr Gesicht.
Nur das ihre!
Es wirkte wie ausgeschnitten, denn Teile ihrer Schultern oder der Hals waren nicht zu sehen. Der Spiegel hatte sich das Gesicht geholt und gab ihm einen Rahmen aus Feuer.
Ein schönes Gesicht.
So glatt die Haut. Herrliche Augen. Der strahlende Blick. Ein Gesicht, das an Perfektion nichts zu wünschen übrig ließ. Es war einfach nur herrlich.
Und dann riss es auf.
Es geschah ohne Vorwarnung. Es war so gnadenlos, so brutal. Das Gesicht zersprang in tausend Stücke, und mit jedem Stück, das aus ihm hervorbrach, folgte das Blut.
Es spritzte ihr entgegen. Es war dick, es war dunkel und zäh, einfach grauenhaft.
Doria riss die Arme hoch und presste die Hände vors Gesicht. Sie konnte und wollte nichts mehr sehen. Nein, nein, keinen Blick mehr hinein in die Abgründe, obwohl sie wusste, dass sie sich gerade mit ihnen stark verbunden fühlte.
Irgendwann ließ Doria die Hände wieder sinken, und es war alles wie zuvor.
Sie saß auf dem Stuhl.
Sie schaute in den Spiegel.
Sie sah ihr Gesicht - und es war völlig normal!
***
Aufatmen. Endlich. Tief und stöhnen. Es war so einfach und doch kompliziert. Sie hatte das Gefühl, als Fremde in ihrer eigenen Person gefangen zu sein. Aber so war es immer, wenn die Visionen hinter ihr lagen. Stets war sie nachdenklich geworden und zugleich erschöpft. Auch jetzt war es nicht anders. Sie kam sich vor, als wäre sie der eigentlichen Lösung wieder ein Stück
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