1193 - Das Templerkind
ihrem Kopf abgemalt.«
Das Mädchen überraschte mich immer mehr. »Dann bist du in der Lage, Gedanken zu lesen?«
»Ja und nein, John. Nicht immer, aber manchmal. Es ist komisch. Seit der letzten Nacht hat es sich verstärkt. Ich konnte ja auch schweben. Dazu habe ich nur meine eigene Kraft gebraucht und nichts anderes.«
Ich stand noch immer unter dem Eindruck der Ereignisse. Die hatten mich wirklich überrascht, und ich flüsterte mit rauer Stimme: »Ist die Kraft wirklich stärker geworden und hat sich dabei auch in dir etwas verändert?«
Clarissa sagte nichts. Sie machte auf mich den Eindruck, als wäre sie dabei, nach innen zu lauschen.
Dann zuckte sie mit den Schultern. »Es ist vieles anders geworden. Ich bin nicht mehr so wie früher. Die Boten, die Engel oder wer auch immer, sie sind ständig bei mir. Ich sehe sie nicht, aber ich weiß es.«
Es war wirklich keine Situation, die ich mir herbeigewünscht hatte. Sie war eskaliert, und ich konnte jetzt zusehen, wie ich wieder die Dinge unter Kontrolle bekam.
Ein normaler Weg würde es nicht werden. Ich hätte jetzt meine französischen Kollegen anrufen und sie über den Selbstmord informieren müssen. Aber nicht immer ist der normale Weg auch der richtige. Vor allen Dingen nicht in einem Fall wie diesem. Hier spielten Mächte mit, die sich nicht durch Menschen beeinflussen ließen. Zudem war es das Beste, wenn Clarissa unter meinem Schutz blieb.
Bei dem Gedanken an den Schutz musste ich lächeln. Das war kein richtiger Schutz, den ich ihr geben konnte. Und mein Verhältnis zu Clarissa hatte sich zudem verändert. Sie war für mich nicht mehr das Mädchen, das so unbedingt beschützt werden musste. Ich konnte sie auch nicht als normal ansehen, denn in ihr steckten Kräfte, die mit der normalen Logik nicht zu erklären waren. Ich bezweifelte, dass sie schon bei der Geburt vorhanden gewesen waren. Sie waren ihr von den geheimnisvollen Besuchern eingegeben worden, und jetzt war sie in der Lage, sie auch einzusetzen.
Und es waren keine Kräfte, die unbedingt auf meiner Seite standen, davon ging ich auch aus. Wäre es so gewesen, hätte sie nicht so ungewöhnlich auf den Anblick des Kreuzes reagiert.
Jetzt schaute sie mich mit ihren großen Augen an, die sich meiner Ansicht nach etwas verdunkelt hatten. Reue sah ich nicht in ihrem Blick. Anne Ferrants Tod schien ihr gleichgültig zu sein.
»Wir sollten jetzt gehen, John«, sagte sie und griff wieder nach ihrem Koffer.
»Ja, das denke ich auch. Mein Auto steht vor der Tür. Dann sehen wir weiter.«
Clarissa dachte über meinen Vorschlag nach. Zumindest erschien mir das so. Die Tür war wieder zugefallen. Ich öffnete sie und schaute in den Gang.
Er war leer, und er sah aus wie immer. Der Schuss war von keinem Menschen registriert worden. In diesem Heim war für mich das Unnormale zur Normalität geworden.
Da die Luft rein war, winkte ich Clarissa, zu mir zu kommen. Das tat sie auch, blieb aber neben mir stehen und blickte ebenfalls in die Düsternis des Flurs hinein, in dem auf das Licht völlig hätte verzichtet werden können.
Hier war das Normale bedrohlich geworden. Die Weihwasserbecken an den Wänden glichen plötzlich halben Köpfen, und selbst das Kreuz in der Ecke sonderte eine gewisse Bedrohung ab.
Das gefiel mir nicht…
Ich fasste nach meinem Kreuz.
Nichts war damit passiert. Es hatte sich nicht erwärmt. Demnach lauerte auch keine Gefahr in der Nähe.
Bevor ich ging, warf ich noch einen Blick in das Gesicht meiner jungen Begleiterin. Clarissas Gesicht zeigte keinerlei Bewegung. Das hätte mich kaum gestört, aber mir kam plötzlich der Gedanke, dass sich etwas Böses in ihr festgesetzt hatte.
Ich ahnte, dass die Schwierigkeiten erst jetzt begannen…
***
»Warum gehst du nicht?« fragte ich nach einer Weile.
Clarissa nagte an der Unterlippe. Sie wirkte nachdenklich und angespannt zugleich. »Es ist nicht so einfach«, gab sie zu.
Über die Antwort stolperte ich nicht. Wohl aber über die Stimme, die sich zum Nachteil des Mädchens verändert hatte. Ihre Kindlichkeit war verschwunden, und sie hatte ein dunkleres Timbre bekommen. Wie sie hätte auch ein Erwachsener sprechen können. Ob Mann oder Frau, stand nicht fest.
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Ich gehe durch eine Hölle!«
Die Antwort erschreckte mich. Ich fand mich auch nicht zurecht. Was sie als Hölle bezeichnet hatte, sah für mich völlig normal und sogar harmlos aus. Es war nur der Gang zu sehen, und der
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