1193 - Das Templerkind
unglücklich vor. Über ihr schwebte etwas, mit dem sie nicht fertig wurde. Und genau das musste der Abbé gespürt haben. Er hatte die Gefahr, in der das Mädchen schwebte, ebenfalls entdeckt.
»Aber dein Gefühl bleibt - oder?«
»Ja, John. Es geht nicht zurück. Es bleibt in mir bestehen. Das ist schlimm und tragisch, ich weiß. Aber ich komme nicht dagegen an. Ich versuche es. Ich kämpfe, aber ich weiß, dass ich es nicht schaffe. Da ist etwas, das ich bisher noch nicht…«, sie schüttelte den Kopf. »Es gibt Dinge, über die ich reden möchte. Aber ich weiß nicht, ob ich das überhaupt kann.«
»Doch, das solltest du. Deshalb bin ich hier. Aus diesem Grunde möchte ich dich auch von hier wegbringen. Wenn du so willst sogar in Sicherheit.«
Clarissa überlegte. »Sicherheit?« wiederholte sie dann, und ihre Stimme klang, als könnte sie selbst nicht daran glauben. »Nein, John, so kann man das nicht sagen. Es gibt keine Sicherheit für mich. Sie werden immer da sein.«
»Sie?« fragte ich.
»Ja, die beiden Schatten. Die Besucher. Dabei weiß ich nicht einmal, ob es Schatten sind oder nicht. Das ist mir alles so schrecklich fremd, John.«
»Aber du hast sie gesehen?«
»Klar.«
»Und weiter?«
Sie senkte den Kopf und legte die Hände zusammen. »Es ist alles so anders gewesen. Sie kamen in der Nacht, doch ich weiß, dass sie auch am Tage kommen können. Sie sind groß, und ich weiß nicht genau, wer sie sind. Es können auch Engel sein.« Sie hob den Kopf wieder an. »Ja, John, Engel. Ich kann mir vorstellen, dass es Engel sind. Sie sind so mächtig. Sie haben eine ganz andere Kraft als wir Menschen, und sie haben mir bewiesen, dass sie ihre Kräfte auch weitergeben können. Dabei weiß ich nicht, ob ich mich fürchten oder freuen soll. Vieles ist so anders geworden.«
Ich deutete zur Decke, als ich merkte, dass Clarissa nicht weitersprechen wollte. »Dort habe ich dich gesehen, Clarissa. Was du da getan hast, ist normalerweise nicht möglich. Nicht für Menschen. Aber du hast es geschafft. Wie kann das sein?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht durch die Besucher.«
»Ja, das denke ich auch. Sie haben dir einen Teil ihrer Kräfte überlassen. Deshalb sind sie auch gekommen. Sie wollten zu dir, sie wollten in deiner Nähe sein, und sie sind dabei gewesen, dich ihnen ähnlich zu machen.«
»Das weiß ich nicht«, flüsterte Clarissa. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich noch denken Böll. Mein Kopf sitzt zu.«
»Kannst du mir die Besucher beschreiben?«
Nach dieser Frage stand sie auf und ging zum Fenster. Dort blieb sie stehen, um in den grauen Tag zu schauen. »Ich konnte sie mehr fühlen, John, aber auch sehen. Sie waren bei und in mir. Aber ich hatte auch Angst vor ihnen, weil sie dabei waren, mir etwas zu nehmen. Das kann ich dir nicht erklären. Sie wollten bei mir was austauschen. Sie nahmen mir was und gaben mir dafür etwas anderes.«
»War es die neue Kraft, die du bekommen hast?«
»Genau.«
»Und was musstest du dafür hergeben?«
»Das kann ich dir nicht sagen«, sagte sie und drehte sich wieder um. »Sie nahmen sich einfach etwas von mir. Was für mich früher wichtig gewesen ist und woran ich gehangen habe, das wurde mir von ihnen geraubt.«
Ich wusste schon, worauf sie hinauswollte, und stellte ihr eine nächste Frage. »War es ein Stück Mensch? Ein Teil deiner Selbst? Deiner Seele vielleicht? Deiner Psyche?«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sorry.« Ich hatte ganz vergessen, dass ich noch ein Kind vor mir hatte. Oder zumindest einen jungen Teenager. »Ich frage mal anders. Ist die Abneigung gegen Kreuze erst entstanden, nachdem du diese Besucher kennen gelernt hast?«
Sehr hörbar atmete sie ein. Dann schluckte sie und schaute sie zu Boden. Es war fast zu sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Sie musste gewisse Dinge erst in die Reihe bringen. Es ging ihr gegen den Strich, doch sie konnte sich davon nicht lösen und sich nicht selbst belügen.
»Ich glaube, dass du Recht hast, John. Sie… sie… wollten mich verändern. Ich sollte nicht mehr nur an die Dinge oder an das glauben, das mir mal viel Spaß gemacht hat. Sie wollten mich bestimmt in eine andere Welt hineinholen. Einfach so. Weg aus meinem normalen Leben. Hin zu ihnen.«
»Möchtest du denn?«
Es war eine Suggestivfrage gewesen, und ich war gespannt, wie Clarissa sie aufnehmen würde. Sie sagte: »Ich weiß es nicht, ob ich es möchte. Ich weiß aber auch nicht, ob ich mich dagegen wehren kann. Die
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