1197 - Unhold in der Nacht
Spiel setzen. Zu leicht hätte sie da von einer Kugel erwischt werden können. So hetzte sie eben hinein in die schützende Dunkelheit, wobei Suko schon Glück haben musste, um sie zu erwischen. Das Risiko wollte er nicht eingehen.
Er wollte die Verfolgung trotzdem aufnehmen, aber Kelly O'Brien hielt ihn zurück. Der jammervolle Laut rührte Suko. Plötzlich war die Frau wichtiger.
Er drehte sich ihr zu.
Kelly O'Brien lag auf dem Rücken. Um sie genau sehen zu können, hob Suko die Lampe an. Er drehte den Lichtstrahl in ihre Richtung - und sein Atem stockte.
Wie eine Marionette ging er näher. Er kniete sich neben Kelly O'Brien. Etwas steckte in seiner Kehle wie ein dicker Pfropfen.
Er sah das Blut!
Es hatte bereits eine Lache um den Hals gebildet, an dem sich eine grässliche Wunde abzeichnete.
Er wusste so schnell nicht, ob Kelly noch lebte. Er leuchtete mit dem Licht gegen eines ihrer offen stehenden Augen.
Ja, die Pupille zuckte!
Der verfluchte Werwolf oder wer immer die Bestie auch war, interessierte ihn plötzlich nicht mehr.
Kelly war wichtiger. Sie musste zu einem Arzt. Behutsam hob Suko sie hoch. Sie lag dabei wie eine Tote in seinen Armen.
Es gab die Sprossen nach oben, die Suko mit seiner Last hochklettern musste.
Einfach würde es mit seiner menschlichen Last nicht werden. Er wusste schon, dass Kelly nicht zu stark bewegt werden durfte, aber welche Chance blieb ihm sonst?
»Okay«, flüsterte er Kelly zu, obwohl die ihn sicherlich nicht hören konnte. Er musste einfach etwas sagen und sprach weiter. »Wir schaffen es, wir schaffen es bestimmt.« Dann legte er die Frau über seine Schulter und machte sich an den Aufstieg.
»Lass sie leben, Gott, lass sie leben«, sagte Suko. »Sie ist noch so jung. Sie darf nicht sterben…«
Aber das lag nicht mehr in seiner Hand…
***
Er kam, und er kam immer näher.
Ich hörte die Geräusche, als er über die Leiter in die Höhe schlich. Und ich hörte ihn atmen, keuchen oder sonst was. In der Tiefe musste etwas vorgefallen sein, was ihn zu dieser Flucht animiert hatte. Ich hatte keinen Schuss gehört, auch keinen menschlichen Schrei und wusste deshalb nicht, ob er Suko begegnet war oder nicht. Das war alles noch mit einem großen Fragezeichen versehen.
Meinen Platz hatte ich mir gut ausgesucht. Es gab ein Regal, das nicht weit von der Tür entfernt stand, und es war zwischen seinem Seitenrand und der Tür recht schattig. Wer das Arbeitszimmer betrat, sah nicht sofort, ob sich jemand dort aufhielt oder nicht. Genau darauf setzte ich.
Noch musste ich warten, und die Zeit wurde mir verdammt lang. Sie war allerdings auch kurz, denn plötzlich - ich hatte ihn noch gar nicht erwartet - tauchte er auf.
Er war vorsichtig. Er sprang nicht mit einem Satz durch die offene Luke. Zuerst hielt er sich mit seinen Pranken, an denen sich dunkle Nägel abzeichneten, am Rand fest. Dabei schob er sich mit einer klimmzugartigen Bewegung höher, damit er beim Drehen des Kopfes eine gute Sicht hatte.
Es war nicht unbedingt strahlend hell, aber ich sah ihn zum ersten Mal bei Licht.
Monster oder Mensch?
In diesem Fall beides, auch wenn sein Aussehen mehr zu einem Menschen hin tendierte. Es war nicht das bekannte Werwolfgesicht, das ich erwartet hatte. Für mich schien es so zu sein, dass er in der Verwandlung dorthin gestoppt worden war.
Er blieb in seiner Haltung. Bewegte nur den Kopf. Helle Augen durchforschten das Zimmer. Die flacher gewordene Nase bewegte sich in Höhe der Nüstern. Beide zuckten. Beide schienen einen bestimmten Geruch aufnehmen zu wollen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er die Menschen witterte.
Noch hatte er mich nicht gesehen. Ich stand unbeweglich und an die Wand gepresst. Selbst das Atmen hatte ich stark eingeschränkt. Ein normaler Mensch hätte mich nicht gehört. Bei dieser Bestie war das etwas anderes. Sie witterte selbst die geringsten Laute und Geräusche.
Ein Ruck!
Er ging über in eine fließende Bewegung. Plötzlich stand er mit beiden Beinen vor der Luke auf dem Boden, hielt seinen Kopf nach vorn gestreckt, drehte ihn leicht und schnüffelte.
Hatte er mich gewittert?
Ja, er hatte.
Er blieb in seiner starren Haltung, den Blick der Raubtieraugen auf mich fixiert.
Ich trat hervor. Ich musste weg aus der Enge und hob zugleich die Beretta an.
»Das war's«, sagte ich mit leiser und trotzdem rau klingender Stimme. »Es gibt keinen Ausweg mehr!«
Mir war selbst nicht richtig klar, warum ich ihn angesprochen hatte.
Weitere Kostenlose Bücher