1198 - Varunas Hexenreich
gesehen hatten. Als er zu mir zurückkehrte, hob er nur die Schultern. Die Geste war eindeutig. Da gab es nichts, gar nichts.
Ich strich durch mein Haar. Die Kälte war schleichend. Sie ließ nichts aus. Sie kroch durch meine Schuhe, erreichte die Füße und glitt an meinen Beinen hoch, die sowieso feucht waren.
»Ich frage mich«, sagte Suko, »ob Varuna überhaupt real ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wäre sie das nicht, dann hätte sie uns nicht retten können.«
»Danke, denn genau das wollte ich hören.«
»Und weiter?«
Er runzelte die Stirn. »Wenn sie wirklich ist, dann muss sie zugleich die Gabe besitzen, sich unsichtbar machen zu können. Ich hätte sie sehen müssen, auch weiterhin, aber sie war plötzlich weg.«
»Hm.« Ich dachte einen Moment nach. »Was hast du denn noch von ihr gesehen? Wie sie sich auflöste oder…«
»Nein, nein nicht genau, John. Sie war weg, und dabei sah ich für einen winzigen Augenblick den Schimmer.«
»Das Licht?«
Suko wiegte den Kopf. »So möchte ich es nicht bezeichnen. Es war nicht so intensiv wie wir es erlebt haben. Aber ich kann es auch nicht wegleugnen.«
»Dann ist sie in das Licht gegangen«, sagte ich.
Er zuckte die Achseln. »Oder von ihm geholt worden. Beides ist möglich.«
»Aber nur in ihrer Welt.«
»Genau!«
Ich hatte Schwierigkeiten, mir diese Welt vorzustellen. Ich glaubte daran, dass es sie gab, aber warum sah sie so normal aus und nicht anders? Es gab keinen Unterschied zu der Welt vor dem gefährlichen Sumpfgraben.
Als Suko mein Gesicht sah, musste er lachen. »Mach dir keine Gedanken. Lass uns gehen.«
»Wunderbar. Und wohin?«
»In Varunas Welt…«
***
Genau das taten wir auch. Es war eine Wanderung über ein flaches Gelände. Es gab keine tiefen Einschnitte mehr, die Gräben und auch die kleinen Rinnsale, die wie Adern das Waldstück durchzogen, waren verschwunden.
Varunas Reich war still. Wie eine riesige Kirche, in der sich kein Mensch befand. Der Himmel dunkelte ein, die ersten Schatten wurden länger, und an verschiedenen Stellen quoll Dunst aus dem Boden. Auch war der Wald wieder dichter geworden, und unsere Hoffnung, hier einen Weg oder zumindest einen Pfad zu finden, erfüllte sich nicht.
Mittlerweile waren wir der Ansicht, dass uns der Abend und die Nacht bevorstand. Wir würden nicht mehr zurückfinden. Wahrscheinlich hatte Varuna genau das gewollt.
Die Nacht konnte ihre Zeit sein. Da kam das zum Vorschein, das sich tagsüber versteckt hatte, und nicht nur einmal dachte ich bei unserem Gang an Aibon, das Paradies der Druiden. Doch damit hatte Varuna nichts zu tun, sie hatte in ihrem Leben einen anderen Weg eingeschlagen, dessen Ursprünge in der tiefsten Vergangenheit lagen, als sich noch keine Religionen etabliert hatten.
Sie war eine Hexe, eine Heidin, eine Hagazissa, eine Zaunreiterin, ein Mensch, der seinen eigenen Gesetzen oder denen folgte, die es in grauer Vorzeit mal gegeben hatte.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich fast gegen Suko geprallt wäre, weil dieser plötzlich stehen geblieben war. Hier war der Wald wieder dichter, hier hatte auch der letzte Orkan seine Spuren hinterlassen. Vor uns waren zwei mächtige Bäume, durch die Wucht des Orkans umgeworfen und lagen jetzt quer über dem Boden. Mit ihren Kronen bildeten sie gewaltige Hindernisse, die wir umgehen oder überklettern mussten.
Das interessierte Suko nicht und wenig später auch mich nicht, denn mein Freund deutete nach vorn und sagte: »Schau dir das mal an, John.«
Ich wusste sofort, was er meinte. Unser Blick fiel auf eine primitive Hütte. Sie war mehr ein Unterstand, vorn offen, an der Rückseite schloss sie mit den Baumstämmen ab. Das Dach bestand aus einer Plane und vor ihr, auf einer freien Fläche, sahen wir eine Ritualstätte, die aus Steinen errichtet worden war. Sie bildeten einen Kreis, der groß genug war, um mehreren Menschen Platz geben zu können.
»Das also ist der Mittelpunkt«, sagte ich. »Das Zentrum ihres Reichs.«
»Sollen wir uns jetzt gratulieren?«
»Noch nicht.«
Wir blieben noch stehen, um die Umgebung der Hütte in Augenschein zu nehmen, aber da gab es keine Überraschungen. Auch Varuna war nirgendwo zu entdecken.
Ich zupfte die klebrigen Hosenbeine von meiner Haut weg und nickte. »Okay, dann sehen wir uns den Unterschlupf mal aus der Nähe an. Irgendwas wird ja zu finden sein.«
Bereits nach wenigen Schritten fiel uns etwas auf. Von den Zweigen der Bäume hingen ungewöhnliche und auch
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