12 - Im Auge des Tigers
Granger. Er zog sein Exemplar aus der Tasche und ließ es herumgehen. »Dieser hier ist kalt – also weder geladen noch scharf«, beruhigte er die anderen.
Sie waren alle eingeweiht. Dem äußeren Anschein nach handelte es sich um einen teuren Kugelschreiber, vergoldet, mit einem Obsidianklipp. Wenn man den Klipp herunter-drückte und an der Spitze des Stifts drehte, erschien anstelle der Mine eine Injektionsnadel. Durch diese wurde dem Opfer ein tödlicher Wirkstoff verabreicht, der es innerhalb von 15 bis 20 Sekunden paralysierte und in drei Minuten tötete. Dabei hinterließ er nur sehr flüchtige Spuren im Körper. Ein Gegenmittel gab es nicht. Als der Stift herum-gereicht wurde, befühlten alle die Nadelspitze und probier-ten dann aus, wie sie damit zustechen würden. Die meisten taten das wie mit einem Dolch, nur Rounds handhabte das 414
Gerät wie ein winziges Schwert. »Das würde ich gern mal richtig ausprobieren«, bemerkte er ruhig.
»Stellt sich jemand freiwillig als Opfer zur Verfügung?«, fragte Granger in die Runde. Betretenes Schweigen. Die Stimmung im Raum überraschte ihn nicht. Es war Zeit für eine Denkpause.
»Fliegen die beiden gemeinsam nach London?«, erkundigte sich Hendley nach einer Weile.
»Ja.« Granger nickte und schlug wieder seinen geschäftsmäßigen Ton an. »Sie werden das Ziel auskundschaften, selbstständig den Zeitpunkt bestimmen und dann den Anschlag durchführen.«
»Und abwarten, um sich zu vergewissern, dass das Zeug wirkt?«, fragte Rounds, eher rhetorisch.
»Richtig. Dann können sie zum nächsten Einsatzort fliegen. Die ganze Operation dürfte nicht länger als eine Woche dauern. Anschließend lassen wir sie wieder nach Hause kommen und warten ab, was sich tut. Wenn jemand nach bin Salis Ableben sein Vermögen anzapft, werden wir es wahrscheinlich mitbekommen, oder?«
»Anzunehmen«, bestätigte Bell. »Und falls jemand das Geld entwendet, können wir verfolgen, wohin es wandert.«
»Sehr gut«, kommentierte Granger. Wie hatte Davis es doch genannt? Sie würden ›auf den Busch klopfen‹.
Dass sie nicht lange an diesem Ort bleiben würden, war den Zwillingen klar. Sie waren in angrenzenden Zimmern des örtlichen Holiday Inn untergebracht und brachten den Sonntagnachmittag damit zu, mit ihrem Gast fernzusehen.
»Wie geht’s eurer Mom?«, erkundigte sich Jack.
»Gut. Sie ist in den Schulen am Ort sehr aktiv – konfessi-onelle Einrichtungen. Ihre Stellung ist etwas höher als die einer Assistentin, aber sie unterrichtet nicht selbstständig.
Dad arbeitet an einem neuen Projekt – angeblich beschäftigen sie sich bei Boeing jetzt wieder mit einem SST, einem Überschall-Passagierflugzeug. Dad sagt, wahrscheinlich 415
werden sie es nie bauen, es sei denn, Washington macht eine Menge Geld locker. Aber nachdem die Concorde aus dem Verkehr gezogen wurde, fangen sie wieder an, darüber nachzudenken, zumal sie bei Boeing ihre Ingenieure grundsätzlich gern auf Trab halten. Sie machen sich wegen der Airbus-Leute ein bisschen Sorgen und möchten auf keinen Fall ins Hintertreffen geraten, falls die Franzosen plötzlich der Ehrgeiz packen sollte.«
»Wie war’s denn bei den Marines?«, wollte Jack von Brian wissen.
»Wie’s halt so ist beim Corps. Man macht einfach im selben alten Trott weiter und hält sich für den nächsten Krieg in Form.«
»Dad hat sich ziemlich Sorgen gemacht, als du nach Afghanistan gegangen bist.«
»Das war auch wirklich nicht ohne. Die Einheimischen dort sind echt hart drauf, und blöd sind sie auch nicht. Allerdings fehlt ihnen eine richtige Ausbildung. Deshalb sind wir auch ganz gut mit ihnen fertig geworden, wenn es mal zu Zusammenstößen kam. Und wenn uns irgendwas nicht ganz koscher vorkam, haben wir Luftunterstützung angefordert, und damit hatte es sich dann in der Regel.«
»Wie viele?«
»Wie viele wir ausgeschaltet haben? Einige. Nicht genug, aber einige. Die Green Berets sind als Erste rein, und da haben die Afghanen gemerkt, dass sie den Kürzeren ziehen würden, wenn es hart auf hart kommt. Hauptsächlich waren wir mit der Verfolgung und Aufklärung betraut, spielten also praktisch die Spürhunde für die Airedales, wie wir die Spezialeinsatzkräfte der Army manchmal nennen. Wir hatten einen CIA-Typen dabei und eine Abteilung für Kommunikationsaufklärung zum Abhören des Funkerver-kehrs. Die Gegenseite hat ein bisschen zu viel durch die Gegend gefunkt. Wenn wir irgendwo was mithören konnten, rückten wir bis auf
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