12 - Im Auge des Tigers
direkt auf sie zu. Wahrscheinlich 497
war der Mann auf dem Weg zur Moschee, die ein Stück hinter ihnen lag. »Was meinst du?«
»Erst mal abwarten. Besser, wir schnappen ihn uns nachher, wenn er wieder rauskommt.«
»Okay.« Daraufhin wandten beide sich ab, um die Ausla-gen im Schaufenster eines Hutgeschäfts zu betrachten. Sie hörten – sie spürten fast –, wie er vorbeiging.
»Wie lange, glaubst du, dauert so was?«
»Wenn ich das wüsste, Mann. Ich war selbst schon monatelang nicht mehr in der Kirche.«
»Super«, brummte Brian. »Mein eigener Bruder ist vom Glauben abgefallen.«
Dominic unterdrückte ein Lachen. »Du warst doch in der Familie immer der Ministrant.«
Tatsächlich gingen Atef und sein Freund in die Moschee. Es war Zeit für das tägliche Gebet, das Salat, die zweite der fünf Säulen des Islam. Sie würden sich in Richtung Mekka niederwerfen und zur Bekräftigung ihres Glaubens flüs-ternd bestimmte Koranverse rezitieren. Beim Betreten des Gebäudes streiften sie ihre Schuhe ab. Yasin stellte überrascht fest, dass sich in diesem Gotteshaus offenbar eine deutsche Unart eingebürgert hatte: An einer Wand des Vorraums gab es Fächer für die Schuhe der Gläubigen, jedes ordentlich nummeriert, damit es nicht zu Verwechslungen kommen konnte… oder gar zu einem Diebstahl.
Letzteres war in muslimischen Ländern ein äußerst seltenes Vergehen, weil nach islamischem Recht die Strafe dafür sehr streng war, und es gar in Allahs Haus zu begehen, wäre ein bewusster Affront gegen Gott selbst gewesen. Die beiden Männer betraten die eigentliche Moschee und hul-digten Allah. Das Gebet dauerte nicht lange, aber es erfreu-te Atefs Seele jedes Mal aufs Neue, seine religiösen Überzeugungen neu zu bekräftigen. Anschließend kehrten er und sein Freund in den Vorraum zurück, zogen ihre Schuhe wieder an und gingen nach draußen.
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Sie waren nicht die Ersten, die durch die große Tür ins Freie traten, und deshalb waren die zwei Amerikaner auf ihr Erscheinen vorbereitet. Die Frage war eigentlich nur, welche Richtung die beiden Araber einschlagen würden.
Dominic beobachtete die Straße und hielt nach einem Poli-zeibeamten oder Agenten Ausschau, konnte aber keinen entdecken. Er war sich ziemlich sicher, dass die Zielperson ihre Wohnung ansteuern würde. Brian kam aus der anderen Richtung. Augenscheinlich hatten sich etwa 40 Personen zum Gebet in der Moschee versammelt. Als sie heraus-kamen, verteilten sie sich, allein oder in kleinen Gruppen, in alle vier Winde. Zwei stiegen in Taxis ein – offenbar ihre eigenen – und fuhren auf der Suche nach Fahrgästen davon.
Ihre Glaubensbrüder kamen dafür nicht infrage, denn die meisten von ihnen waren vermutlich einfache Arbeiter, die entweder zu Fuß gingen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzten. Das ließ sie den Zwillingen, die sich der Moschee unauffällig näherten, nicht gerade sehr schurkenhaft erscheinen. Dann kamen die Zielperson und ihr Freund nach draußen.
Die beiden wandten sich nach links und gingen direkt auf Dominic zu, der jetzt noch etwa 30 Meter von ihnen entfernt war.
Brian konnte von seinem Standort aus alles beobachten.
Dominic zog den goldenen Stift aus der Innentasche seines Sakkos, drehte verstohlen an der Spitze, um ihn scharf zu machen, und hielt ihn dann wie einen Dolch in der rechten Hand. Er steuerte fast direkt auf die Zielperson zu…
Das Ganze verlief so reibungslos, dass es schon eine gewisse perverse Schönheit an sich hatte. Als er nur noch zwei Meter von seinem Angriffsziel entfernt war, schien Dominic über etwas zu stolpern und taumelte direkt gegen Atef.
Brian sah nicht, wie sein Bruder zustach. Beide, Atef und Dominic, stürzten auf den Boden, was den kurzen Schmerz des Stichs vermutlich überdeckte. Atefs Freund half den zweien auf. Dominic entschuldigte sich auf Deutsch und 499
ging weiter, während nun Brian der Zielperson folgte. Da er nicht mitbekommen hatte, wie bin Sah gestorben war, er-füllte ihn das Ganze mit morbider Neugier. Die Zielperson ging noch etwa 15 Meter weiter, dann blieb sie abrupt stehen. Anscheinend hatte Atef gerade etwas gesagt, denn sein Freund wandte sich ihm zu, als wolle er ihm eine Frage stellen. Im selben Moment brach Atef zusammen. Sein rechter Arm fuhr noch hoch, um sein Gesicht vor dem Aufprall zu schützen, aber dann erschlaffte sein ganzer Körper.
Der zweite Mann blieb erschrocken stehen. Er beugte sich über seinen Freund, zunächst erstaunt, dann besorgt
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