12 - Im Auge des Tigers
schief läuft, wenn wir nichts weiter tun, als denen alles nachzumachen?«
Gab es darauf eine einfache Antwort, die den Frager zufrieden gestellt hätte?, fragte sich Wills. Nein, es gab keine. Dieser Junge durchschaute einfach viel zu schnell, was hier gespielt wurde. Was hatte der eigentlich im Weißen Haus alles gelernt? Eins stand fest: Mit Sicherheit war er nie mü-
de geworden, Fragen zu stellen. Und er hatte sich die Ant-490
worten sehr genau angehört. Und sogar über sie nachgedacht.
»Ich sage es ja nur ungern, Jack, aber ich bin nur Ihr Ausbilder, nicht der Chef dieser Einrichtung.«
»Sicher, schon klar. Tut mir ja auch Leid. Wahrscheinlich habe ich mich einfach daran gewöhnt, dass mein Dad über die entsprechenden Möglichkeiten verfügte, Dinge in die Tat umzusetzen – na ja, zumindest sah es für mich so aus.
Für ihn nicht, das weiß ich. Jedenfalls nicht immer. Vielleicht liegt diese Ungeduld auch bei uns in der Familie.«
Und zwar von beiden Seiten, denn schließlich war seine Mutter Chirurgin und als solche daran gewöhnt, selbst den Zeitrahmen festzulegen, in dem Probleme angegangen wurden, was in der Regel hieß: Jetzt auf der Stelle. Entschlossenes Handeln war vor dem Computer nur schwer umzusetzen. Diese Lektion hatte wohl auch sein Vater einmal lernen müssen, in einer Zeit, als sich Amerika im Visier eines wirklich ernst zu nehmenden Feindes befand. Diese Terroristen konnten seinem Land Tiefschläge versetzen, aber sie konnten ihm keinen substanziellen Schaden zufü-
gen, auch wenn das einmal versucht worden war, damals in Denver. Diese Leute waren eher wie ein Schwärm Insekten als wie blutsaugende Fledermäuse…
Andererseits – konnten nicht Moskitos Gelbfieber übertragen?
Anderthalbtausend Kilometer südlich von München, in der griechischen Hafenstadt Piräus, wurde ein Container von einem Schiff auf den Auflieger eines wartenden Volvo-Sattelschleppers verladen. Sobald die Fracht befestigt war, verließ der Sattelschlepper den Hafen und fuhr an Athen vorbei in Richtung Norden, in die Berge Griechenlands.
Laut Papieren sollte die Fracht, Kaffee aus Kolumbien, nach Wien gehen – eine lange Non-Stop-Fahrt über gut ausge-baute Fernstraßen. Die Hafenaufsichtsbeamten kamen nicht auf die Idee, eine Durchsuchung des Sattelzuges vorzu-491
nehmen, da mit den Frachtdokumenten alles in Ordnung war und die Strichcode-Überprüfung keinen Grund zur Beanstandung ergab. Im Landesinneren bereiteten sich jedoch schon Männer darauf vor, jenen Teil der Fracht in Empfang zu nehmen, der nicht dafür bestimmt war, mit heißem Wasser aufgegossen und mit Milch vermengt zu werden. Um eine Tonne Kokain in Portionspäckchen aufzu-teilen, benötigte man eine Menge Leute, und deswegen hatte die Organisation vor kurzem ein einstöckiges Lager-haus erworben, in dem dieser Aufgabe nachgegangen werden konnte. Sobald das erledigt war, würde jeder der Beteiligten mit seiner heißen Ware in einen anderen Teil Europas fahren. Die Öffnung der Grenzen innerhalb der EU kam ihnen dabei sehr zugute. Mit dieser Lieferung hielt ein Geschäftspartner Wort, und während die eine Seite durch das Bündnis einen psychologischen Gewinn erzielt hatte, schlug die andere nun ganz handfesten finanziellen Profit daraus.
Die ganze Nacht über waren diese Leute aktiv, während die Europäer den Schlaf der Gerechten schliefen – auch diejenigen, die vom illegalen Teil der Fracht Gebrauch machen würden, sobald sie einen Kleindealer fanden.
Sie sahen die Zielperson am nächsten Morgen um 9.30 Uhr.
Brian und Dominic frühstückten gerade im Freien vor einem Lokal nicht weit von dem, wo sie am Tag zuvor so gut gegessen hatten. Anas Ali Atef kam zu Fuß die Straße herauf und ging in etwa fünf Meter Entfernung an den Zwillingen vorbei, die zwischen ungefähr 20 deutschen Gästen beim Frühstück saßen. Atef bemerkte nicht, dass er beobachtet wurde. Ein ausgebildeter Agent hätte unauffällig seine Umgebung beobachtet, doch dieser Mann sah sich nicht um. Offensichtlich fühlte er sich hier sicher. Sehr gut.
»Da ist unser Freund«, verkündete Brian, der ihn als Erster entdeckte. Nicht dass Atef ein Schild um den Hals getragen hätte, auf dem ›Zielperson‹ stand, aber er sah genau so aus wie auf dem Foto. Außerdem hatte er gerade das 492
betreffende Haus verlassen. Aufgrund seines Schnurrbarts war eine Verwechslung unwahrscheinlich. Der Mann war recht ordentlich gekleidet. Bis auf die Hautfarbe und den Schnurrbart
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