12 - Im Auge des Tigers
einmal für die eigene Steuererklä-
rung. Damit beauftragte er eine Kanzlei.
»Können Sie rechnen?«
»Logisch.«
»Dann kombinieren Sie das mit Ihrem Riecher.«
Na großartig!, dachte John Patrick Ryan jr. Dann besann er sich darauf, dass nachrichtendienstliche Tätigkeit in Wirklichkeit nichts mit Den-Bösewicht-erschießen-und-die-scharfe-Ursula-vögeln zu tun hatte. So war es nur im Film.
Dies hier war das wirkliche Leben.
»So eilig hat es unser Freund?«, fragte Ernesto nicht wenig überrascht.
»Anscheinend. Die norteamericanos machen ihnen in letzter Zeit das Leben ziemlich schwer. Ich könnte mir vorstellen, sie wollen ihren Feinden in Erinnerung rufen, dass sie ihre Zähne noch längst nicht verloren haben. Für sie vielleicht eine Frage der Ehre«, vermutete Pablo.
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Einen solchen Beweggrund würde sein Gegenüber ohne Probleme nachvollziehen können.
»Und was tun wir jetzt?«
»Wenn sie in Mexico City gut angekommen sind, arrangieren wir einen Transport nach Amerika, und ich nehme an, wir beschaffen außerdem Waffen.«
»Komplikationen?«
»Wenn die norteamericanos über Informanten in unseren Organisationen verfügen, könnten sie Wind von der Sache bekommen – und von unserer Beteiligung. Aber darüber haben wir uns schon Gedanken gemacht.«
Sie hatten sich Gedanken darüber gemacht, das schon, überlegte Ernesto – aber aus sicherer Entfernung. Jetzt, da die Sache unmittelbar vor der Tür stand, war es an der Zeit, sich ein paar weitere Gedanken zu machen. Allerdings konnte er sich nicht mehr aus diesem Deal zurückziehen.
Auch das war eine Frage der Ehre, ebenso wie des Geschäfts. Die Vorbereitungen für die erste Kokainlieferung in die EU waren bereits im Gange. Das versprach ein nicht unbeträchtlicher Markt zu werden.
»Wie viele Personen kommen her?«
»Sechzehn, sagt er. Sie sind alle unbewaffnet.«
»Was, denkst du, werden sie brauchen?«
»Leichte Automatikwaffen sollten reichen, und natürlich Pistolen«, sagte Pablo. »Wir haben einen Lieferanten in Mexiko, der das Benötigte für weniger als zehntausend Dollar besorgen kann. Für weitere zehn können wir die Waffen gleich nach Amerika liefern lassen, um Komplikationen beim Grenzübertritt zu vermeiden.«
»Bueno, so wird es gemacht. Fliegst du selbst nach Mexiko?«
Pablo nickte. »Morgen früh. Für dieses erste Mal werde ich mich um die Koordination zwischen ihnen und den coyotes kümmern.«
»Du musst auf der Hut sein«, mahnte Ernesto. Seine Ratschläge hatten die Kraft von Sprengstoff. Pablo ging 191
einige Risiken ein, aber seine Dienste waren für das Kartell von höchster Wichtigkeit, und er wäre schwer zu ersetzen gewesen.
»Selbstverständlich, jefe. Ich muss mich vergewissern, wie zuverlässig diese Leute sind – schließlich sollen sie uns in Europa unterstützen.«
»Ja, so ist es«, stimmte Ernesto mit einiger Zurückhaltung zu. Wie bei den meisten Deals kamen ihm kurz vor der Ausführung noch Zweifel. Aber er war kein altes Weib. Er hatte sich nie gescheut, entschieden zu handeln.
Der Airbus rollte an den Flugsteig heran. Die Passagiere erster Klasse durften zuerst aussteigen. Sie folgten den bun-ten Pfeilen, die den Weg zur Einreise- und Zollstelle wiesen.
Dort versicherten sie den uniformierten Bürokraten, dass sie nichts zu verzollen hatten, ließen ihre Pässe abstempeln und holten anschließend ihr Gepäck ab.
Der Anführer der Gruppe hieß Mustafa, ein gebürtiger Saudi. Er war glatt rasiert, was ihm nicht gefiel – allerdings wurden dadurch Hautpartien freigelegt, für die Frauen anscheinend eine Vorliebe hatten. Er und ein Mitstreiter namens Abdullah gingen zusammen zur Gepäckausgabe und von dort zum Ausgang, wo sie abgeholt werden sollten. Hier würde sich zum ersten Mal zeigen müssen, wie zuverlässig ihre neuen Freunde in der westlichen Hemisphäre waren. Tatsächlich, da hielt jemand ein Pappschild hoch, auf dem »MIGUEL« stand – Mustafas Codename für diese Mission. Er trat auf den Mann zu und gab ihm die Hand. Dieser bedeutete ihnen wortlos, ihm zu folgen.
Draußen wartete ein brauner Chrysler Voyager. Nachdem die Taschen hinten verstaut waren, ließen sich die Passagiere auf der mittleren Sitzbank nieder. Es war warm in Mexico City und die Luft schlechter, als sie es jemals erlebt hatten. Das eigentlich sonnige Wetter wurde durch eine graue Dunstglocke getrübt, die über der gesamten Stadt hing –
Luftverschmutzung, stellte Mustafa im Stillen
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