12 - Im Auge des Tigers
Gesicht bekommen hättest?«, hakte Dominic nach.
»Hab ich aber nun mal nicht.«
»Dein Glück«, erwiderte Enzo und dachte an das kleine Mädchen, dessen Kehle von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt war. Es gab unter Juristen eine Redensart, die besagte, dass schwere Fälle zu schlechten Gesetzen führten, aber die Bücher konnten nun einmal nicht jede mögliche Tat vorwegnehmen, die Menschen begingen. Schwarze Tinte auf weißem Papier schien manchmal etwas zu trocken für die reale Welt. Er, Dominic, war immer schon der Lei-denschaftlichere von ihnen gewesen. Brian verhielt sich von jeher eine Spur cooler. Sie waren Zwillinge, aber eben zwei-eiige. Dominic kam mehr nach dem Vater mit seinem feuri-gen italienischen Temperament. Brian schlug eher nach der Mutter – eine kühle Frau, die in einem nördlicheren Klima zu Hause war. Von außen betrachtet mochten die Unterschiede verschwindend gering wirken, doch für die Zwillinge selbst boten sie eine ständige Grundlage für Neckerei-en und so manchen Schlagabtausch. »Wenn du so was siehst, Brian, wenn du es direkt vor dir hast, das haut rein, Mann. Das setzt etwas in dir in Flammen.«
»Hey, ist ja nicht so, als ob ich nicht selbst schon so ein 195
paar Kleinigkeiten erlebt hätte, klar? Ich hab ganz allein fünf Männer umgelegt. Aber das war dienstlich, nichts Persönliches. Die wollten uns in den Hinterhalt locken, aber sie hatten ihre Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht. Ich habe sie mit Feuerkraft und Taktik überlistet und aufgerollt, genau wie ich’s gelernt habe. Nicht meine Schuld, dass die unterlegen waren. Sie hätten sich ja ergeben können, aber nein – die haben es vorgezogen, die Sache auszuschießen.
Deren Pech. Jeder muss tun, was er für das Beste hält.« Sein absoluter Lieblingsfilm war Ein Mann namens Hondo mit John Wayne.
»Mensch, Aldo, ich sag doch gar nicht, dass du ein Weichei bist.«
»Das weiß ich, aber hör mal, ich will nicht auch so werden wie die, okay?«
»Darum geht es hier doch gar nicht, Mann. Ich hab ja auch meine Bedenken, aber ich bleib erst mal dabei und seh mir an, wie es weitergeht. Wir können ja immer noch jederzeit aussteigen.«
»Na ja, stimmt eigentlich.«
Auf der Mattscheibe erreichte Derek Jeter gerade das zweite Base. In den Augen der Werfer war er vermutlich ein Terrorist…
In einem anderen Teil des Hauses sprach Pete Alexander über eine abhörsichere Telefonleitung mit seinem Kollegen in Columbia, Maryland.
»Und, wie machen sie sich?«, hörte er Sam Granger fragen.
Pete nippte an seinem Sherry. »Das sind gute Jungs. Sie haben beide ihre Bedenken. Der Marine spricht offen dar-
über, der FBI-Bursche hält die Klappe. Aber allmählich kommt die Sache ins Rollen.«
»Wie ernst ist es?«
»Schwer zu sagen. Hey, Sam, uns war doch von Anfang an klar, dass die Ausbildung der härteste Teil sein wird.
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Welcher Amerikaner will schon zum Profikiller werden –
bestimmt keiner von denen, die wir brauchen können.«
»Bei der Agency gab es einen Typen, der genau die richtigen Voraussetzungen…«
»Aber der ist verdammt noch mal zu alt, das wissen Sie ganz genau«, konterte Alexander prompt. »Außerdem genießt er seinen lauen Job auf der anderen Seite vom großen Teich, in Wales, und da scheint es ihm auch ganz gut zu gefallen.«
»Aber wenn…«
»Wenn meine Tante bloß Eier hätte, dann wäre sie mein Onkel«, schnitt Pete ihm das Wort ab. »Kandidaten auswählen ist Ihr Job. Sie ausbilden ist meiner. Diese beiden haben was im Kopf, und sie bringen die erforderlichen Fä-
higkeiten mit. Das Problem ist ihr Temperament. Aber ich arbeite dran. Nur Geduld.«
»Im Film geht das immer viel einfacher.«
»Die Leute im Film sind allesamt halbe Psychopathen.
Wollen wir solche Leute auf der Gehaltsliste stehen haben?«
»Wohl kaum.«
Psychopathen liefen massenhaft herum. Jedes größere Police Department kannte gleich mehrere davon. Sie brachten für unerhebliche Geldbeträge Menschen um – oder für eine kleine Menge Drogen. Das Problem an diesen Leuten lag darin, dass sie sich ungern etwas befehlen ließen und dass sie nicht besonders helle waren. Im Film war das anders.
Wo steckte nur diese kleine Nikita, wenn man sie wirklich brauchte?
»Wir müssen uns also an anständige, zuverlässige Menschen halten, die was im Kopf haben. Solche Leute pflegen zu denken – und was sie denken, ist nicht immer berechenbar, hab ich Recht? Die Leute sollen ein Gewissen haben, schön und gut,
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