12 - Wer die Wahrheit sucht
Kevin...? Nun, Kevin hatte natürlich eine Menge Dinge im Kopf, die mit Testamenten und Vermächtnissen überhaupt nichts zu tun hatten, folglich hatte er der Einladung zu dieser Testamentseröffnung auch ganz ohne Erwartungen Folge geleistet.
Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Sie wusste, dass er es unnatürlich finden würde, wenn sie sich überhaupt nicht äußerte, aber sie wollte vorsichtig sein und nicht zu viel sagen. Es gab Dinge, über die man besser nicht sprach.
»Was meinst du, sollen wir Henry anrufen?«, fragte sie schließlich.
Kevin, der sich in den Kleidern, welche die meisten Männer wie selbstverständlich trugen, nicht wohl fühlte, lockerte seinen Schlips und öffnete den obersten Hemdknopf. »Ich denke, er wird es bald genug erfahren«, sagte er. »Spätestens bis zum Abend weiß es garantiert die halbe Insel.«
Valerie wartete, aber mehr sagte er nicht. Sie wäre gern erleichtert darüber gewesen, doch er sah sie nicht an, und das verriet ihr, dass er ihr auswich.
»Ich frage mich, wie er reagieren wird«, sagte sie.
»Wirklich, Schatz?«, fragte Kevin.
Er sprach so leise, dass Valerie ihn kaum hörte, aber schon sein Ton hätte ausgereicht, sie frösteln zu lassen. »Warum fragst du das, Kev?«, sagte sie in der Hoffnung, ihn zum Reden zu bringen.
Er antwortete: »Was die Leute angeblich tun, und was sie tatsächlich tun, das ist oft zweierlei.« Er sah sie an.
Das Frösteln wich einer Kälte, die ihre Beine hinaufkroch und in ihren Magen schoss, wo sie eisig liegen blieb. Valerie wartete darauf, dass ihr Mann auf das nahe liegende Thema zu sprechen käme, über das in diesem Moment wahrscheinlich alle, die im Wohnzimmer gesessen hatten, nachdachten oder diskutierten. Als er das nicht tat, sagte sie: »Henry war bei der Trauerfeier, Kev. Hast du mit ihm gesprochen? Zur Bestattung ist er auch mitgekommen. Und zum Empfang. Hast du ihn dort gesehen? Das kann doch eigentlich nur heißen, dass er und Mr. Brouard bis zum Ende Freunde waren. Gott sei Dank. Es wäre schrecklich gewesen, wenn Mr. Brouard im Streit mit jemandem gestorben wäre, besonders mit Henry. Ein Bruch in seiner Freundschaft mit Mr. Brouard hätte Henrys Gewissen bestimmt belastet, nicht wahr? Und das hätte er sicher nicht gewollt.«
»Nein, sicher nicht«, stimmte Kevin zu. »Ein schlechtes Gewissen ist was Scheußliches. Es hält einen nachts wach. Man muss dauernd daran denken, was man getan hat.« Mitten auf dem Rasen blieb er plötzlich stehen. Auch Valerie hielt inne. Ein Windstoß brachte salzige Luft und mit ihr die Erinnerung an das, was unten an der Bucht geschehen war.
»Glaubst du«, sagte Kevin, nachdem gut dreißig Sekunden verstrichen waren, ohne dass Valerie etwas auf seine Bemerkung erwidert hatte, »Henry wird sich wundern, wenn er von diesem Testament erfährt?«
Sie schaute weg, da sie wusste, dass er noch immer versuchte, sie mit seinem Blick aus der Reserve zu locken. Er konnte sie eigentlich immer zum Sprechen bringen, denn auch nach siebenundzwanzig Jahren Ehe liebte sie ihn wie beim ersten Mal, als er ihr die Kleider vom hitzigen Körper gestreift und diesen Körper mit seinem Körper geliebt hatte. Sie wusste, wie viel ein solches körperliches Einverständnis mit einem Mann bedeutete, und aus Furcht vor seinem Verlust drängte es sie, zu sprechen und Kevin dafür um Verzeihung zu bitten, dass sie getan hatte, was niemals zu tun sie versprochen hatte.
Doch der Sog von Kevins Blick war nicht stark genug. Er zog sie bis an den Rand des Abgrunds, aber er konnte sie nicht verleiten, sich ins sichere Verderben zu stürzen. Sie schwieg beharrlich, und das zwang ihn dazu, weiterzusprechen.
Er sagte: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich nicht seine Gedanken machen wird. Das Testament ist ungewöhnlich, das fordert doch Fragen heraus. Und wenn er sie nicht stellt...« Kevin blickte zu den Ententeichen hinüber und zum kleinen Entenfriedhof, in dem die verstümmelten Körper der unschuldigen Vögel lagen. »Es gibt zu vieles«, sagte er, »was für einen Mann Macht bedeutet, und wenn ihm seine Macht genommen wird, dann steckt er das nicht so einfach weg. Er kann das nicht mit einem Lächeln und einem Schulterzucken abtun und sagen: ›Ach, so viel hat es sowieso nicht bedeutet‹. Jedenfalls nicht, wenn er seine Macht erkannt hat. Und sie verloren hat.«
Valerie setzte sich wieder in Bewegung. Sie wollte sich nicht noch einmal vom Blick ihres Mannes aufspießen lassen wie ein
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