12 - Wer die Wahrheit sucht
Gäste sich verabschiedeten, wurde es zunehmend schwieriger, den machtvollen Forderungen der Krankheit zu widerstehen. Die Testamentsverlesung hatte immerhin für Ablenkung gesorgt; ebenso das, was ihr folgte.
Das Gespräch mit Margaret war zum Glück überraschend kurz ausgefallen. »So werde ich das nicht stehen lassen«, hatte ihre ehemalige Schwägerin wutentbrannt und mit einem Gesicht erklärt, als hätte man ihr ranzige Butter vorgesetzt. »Aber im Moment möchte ich nur wissen, wer, zum Teufel, diese Leute sind.«
Ruth wusste, dass sie von den zwei Personen sprach, die Guy neben seinen Kindern in seinem Testament bedacht hatte. Sie gab Margaret die gewünschte Auskunft und sah ihr nach, als sie, schon zu einem Kampf gewappnet, dessen Ausgang - wie Ruth wusste - höchst zweifelhaft war, aus dem Zimmer rauschte.
Blieb der Rest. Frank Ouseley hatte es ihr überraschend leicht gemacht. Als sie mit verlegenen Entschuldigungen zu ihm getreten war und ihm versicherte, dass man ganz gewiss etwas tun könne, um die Situation zu ändern, da Guy ja bezüglich des Kriegsmuseums keinen Zweifel an seinen Wünschen gelassen habe, hatte Frank erwidert: »Machen Sie sich nur deswegen keine Sorgen, Ruth«, und sich ohne das geringste Anzeichen von Groll von ihr verabschiedet. Aber wenn man bedachte, was er und Guy an Zeit und Mühe in ihr Projekt investiert hatten, musste er natürlich trotzdem enttäuscht sein, und deshalb hatte Ruth ihn nicht gleich gehen lassen, sondern noch gesagt, er dürfe nicht glauben, die Lage sei aussichtslos, sie sei überzeugt, dass man etwas tun könne, um seinen Traum zu verwirklichen. Guy habe gewusst, wie viel das Projekt Frank bedeute, und es sei gewiss seine Absicht gewesen. Aber mehr konnte sie nicht sagen. Sie verstand auch noch nicht, was ihr Bruder getan und warum er es getan hatte, und wollte nicht riskieren, ihn und seine Wünsche zu verraten.
Frank hatte ihre Hand mit seinen beiden Händen umfasst und gesagt: »Das hat alles Zeit, Ruth. Sorgen Sie sich jetzt nicht darum.«
Damit war er gegangen und hatte sie der Auseinandersetzung mit Anaïs überlassen.
Wie im Schock, schoss es Ruth durch den Kopf, als sie sich der Geliebten ihres Bruders zuwandte. Anaïs saß stumm und starr auf dem zweisitzigen Sofa, auf dem sie zur Testamentsverlesung Platz genommen hatte, und sie war allein. Jemima war geflohen, sobald Ruth zu ihr gesagt hatte: »Vielleicht schaust du mal, wo Stephen geblieben ist, Kind...« In ihrer Hast war sie mit einem ihrer großen Füße über ein Sitzkissen gestolpert und hätte beinahe einen Beistelltisch umgerissen. Ihre Eile war verständlich. Jemima kannte ihre Mutter und ahnte wahrscheinlich, was in den nächsten Wochen an töchterlicher Liebe von ihr verlangt werden würde. Anaïs würde sowohl eine Vertraute als auch einen Sündenbock brauchen. Die Zeit würde zeigen, welche Rolle sie ihrer linkischen Tochter zuzuteilen gedachte.
Nun waren Ruth und Anaïs allein. Ruth wusste nicht, was sie der anderen Frau sagen sollte. Ihr Bruder, der trotz seiner Schwächen ein guter und großzügiger Mensch gewesen war, hatte in seinem früheren Testament in einer Weise für Anaïs - und ihre Kinder - vorgesorgt, die diese all ihrer Sorgen enthoben hätte. So hatte Guy sich all seinen Frauen gegenüber verhalten. Wann immer er mit einer Frau länger als drei Monate zusammen gewesen war, hatte er sein Testament entsprechend der Innigkeit ihrer Beziehung geändert. Ruth wusste das, weil Guy jede Änderung seiner Verfügungen mit ihr besprochen hatte. Mit Ausnahme dieses letzten und endgültigen Testaments hatte Ruth jedes Einzelne im Beisein Guys und seines Anwalts gelesen, weil Guy immer sicher sein wollte, dass sie wusste, wie er seinen Nachlass aufgeteilt sehen wollte.
Das letzte Testament, das Ruth zu Gesicht bekommen hatte, war etwa sechs Monate nach Beginn der Beziehung zwischen ihrem Bruder und Anaïs Abbott aufgesetzt worden. Die beiden waren gerade aus Sardinien zurückgekehrt, wo sie allem Anschein nach nicht viel mehr getan hatten als den Liebesakt in all seinen Variationen zu genießen. Guy hatte mit glasigem Blick erklärt: »Das ist die Frau meines Lebens, Ruth«, und das geänderte Testament hatte diese optimistische Einschätzung widergespiegelt. Ruth hatte die Geliebte ihres Bruders zur Testamentsverlesung gebeten, da sie glaubte, dieses Dokument sei noch gültig; doch Anaïs war ihrem Gesichtsausdruck nach offenbar überzeugt, sie hätte es aus Bosheit
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