12 - Wer die Wahrheit sucht
gefangener Schmetterling der Spezies wortbrüchiges Frauenzimmer. »Denkst du denn, dass so was passiert ist, Kev? Dass jemand seine Macht verloren hat? Glaubst du, dass es darum geht?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Du?«
Eine andere Frau hätte vielleicht mit gespielter Ahnungslosigkeit gesagt: »Wieso sollte ich...?«, aber Koketterie war nicht Valeries Sache. Sie wusste genau, warum ihr Mann ihr diese Frage stellte, und sie wusste, wohin es führen würde, wenn sie ihm direkt antwortete: zu einer Überprüfung gegebener Versprechen und einer Erörterung versuchter Rationalisierungen.
Aber abgesehen davon, dass es gewisse Themen gab, die Valerie im Gespräch mit ihrem Mann mied, ging es jetzt um ihre persönlichen Gefühle, die auch berücksichtigt sein wollten. Denn es war nicht leicht, mit der Erkenntnis zu leben, dass man wahrscheinlich am Tod eines guten Menschen schuld war. Dies tagein, tagaus mit sich herumzutragen, während man versuchte, den Alltag zu bewältigen, war belastend genug. Doch die Last wurde untragbar, wenn man obendrein hinnehmen sollte, dass noch ein anderer von dieser Schuld wusste. Da blieb nur Ausweichen und Ablenken. Alles andere schien ins Verderben zu führen, zum schnellen Sturz in den tiefen Abgrund verletzter Vereinbarungen und zurückgewiesener Verantwortung.
Mehr als alles wünschte sie sich, sie könnte das Rad zurückdrehen. Aber das war unmöglich. Und so ging sie stetigen Schritts dem Haus entgegen, wo wenigstens Beschäftigung auf sie beide wartete und sie vorübergehend die Kluft vergessen lassen würde, die sich so schnell zwischen ihnen auftat.
»Hast du den Mann gesehen, der mit Miss Brouard gesprochen hat?«, fragte Valerie ihren Mann. »Den mit dem kranken Bein? Sie ist mit ihm nach oben gegangen, kurz bevor der Empfang vorbei war. Ich habe ihn hier noch nie gesehen. Was meinst du - ist das vielleicht ihr Arzt? Sie ist nicht gesund, das weißt du doch, Kev, nicht wahr? Sie versucht, es zu verheimlichen, aber es wird zusehends schlimmer. Wenn sie doch darüber sprechen würde, dann könnte ich ihr besser helfen. Ich kann ja verstehen, dass sie nichts sagen wollte, solange er noch lebte - sie wollte ihn nicht beunruhigen -, aber jetzt, wo er tot ist... Wir könnten viel für sie tun, Kev, wir beide. Wenn sie es zulassen würde.«
Sie ließen den Rasen hinter sich und überquerten einen Teil der Auffahrt, der vorn an ihrem Haus vorbeiführte. Valerie war als Erste an der Haustür und wäre schnurstracks ins Haus gegangen, hätte ihren Mantel aufgehängt und ihre Arbeit da wieder aufgenommen, wo sie sie unterbrochen hatte, hätten nicht Kevins Worte sie aufgehalten.
»Wann hörst du auf, mich zu belügen, Val?«
Es war genau die Art Frage, die sie zu einer anderen Zeit hätte beantworten müssen. Sie hätte der in ihr enthaltenen Unterstellung über die sich verändernde Natur ihrer Beziehung nur entgegentreten können, indem sie ihrem Mann gegeben hätte, was er verlangte. Aber die Entscheidung wurde ihr diesmal abgenommen; noch während Kevin sprach, trat der Mann, über den sie sich eben unterhalten hatten, aus dem Gebüsch am Fußweg zur Bucht.
Er war in Begleitung einer rothaarigen Frau. Als die beiden die Duffys bemerkten, tauschten sie ein paar Worte aus und kamen unverzüglich zum Haus. Der Mann stellte sich als Simon St. James vor und die Rothaarige als seine Frau Deborah. Sie seien aus London zur Beerdigung gekommen, erklärte er und fragte die Duffys, ob er sie kurz sprechen könne.
Das letzte Medikament in der Reihe der Analgetika - das ihr Onkologe als das »allerletzte Mittel« bezeichnet hatte, das sie versuchen würden - konnte die mörderischen Schmerzen in Ruths Knochen nicht mehr eindämmen. Nun war es offensichtlich Zeit, das Morphium einzusetzen. Die Zeit für ihren Körper war gekommen, aber noch nicht die Zeit für ihren Geist, die der Moment bestimmen würde, da sie sich in ihrem Bemühen, selbst zu entscheiden, wie ihr Leben enden würde, geschlagen gab. Und bis diese Zeit kam, wollte Ruth ihr Leben weiterleben, als gäbe es den Feind in ihrem Körper nicht.
Sie war am Morgen mit starken Schmerzen erwacht, die sich im Lauf des Tages nicht gelegt hatten. In den ersten Stunden hatte sie sich so ausschließlich darauf konzentriert, ihren Pflichten gegenüber ihrem Bruder, seiner Familie, seinen Freunden und der Gemeinde nachzukommen, dass es ihr gelungen war, das Feuer, das ihren Körper im Griff hielt, zu ignorieren. Aber als die
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