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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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getan.
    Ruth wusste nicht, was in diesem Moment das größere Übel wäre: Anaïs glauben zu lassen, sie habe, nur um sie zu verletzen, dafür gesorgt, dass sie ihre Hoffnungen coram publico zunichte gemacht sah, oder ihr zu sagen, dass ein früheres Testament existiert hatte, das sie um vierhunderttausend Pfund reicher gemacht und die Rettung aus ihrem derzeitigen Dilemma bedeutet hätte. Ruth entschied sich für das Erstere. Sie zog sich zwar nicht gern den Unwillen anderer zu, aber wenn sie Anaïs von dem früheren Testament berichtete, würde das beinahe zwangsläufig zu einem Gespräch darüber führen, warum es geändert worden war.
    Sie setzte sich. »Anaïs«, sagte sie, »es tut mir entsetzlich Leid. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.«
    Anaïs schaute Ruth an, als käme sie langsam wieder zu Bewusstsein, und sagte: »Wenn er sein Geld Teenagern hinterlassen wollte, warum dann nicht meinen Kindern? Jemima und Stephen. Hat er nur so getan...« Sie drückte sich ein Sofakissen auf den Bauch. »Warum hat er mir das angetan, Ruth?«
    Ruth wusste nicht, wie sie es ihr erklären sollte. Es ging Anaïs schon schlecht genug. Ihr noch mehr zuzumuten, schien unmenschlich. Sie sagte: »Ich vermute, es hatte damit zu tun, dass Guy seine eigenen Kinder infolge der Scheidungen verloren hatte, Anaïs. An ihre Mütter. Ich denke, er sah in der Beziehung zu diesen anderen jungen Leuten die Möglichkeit, der Vater zu sein, der er seinen eigenen Kindern nicht mehr sein konnte.«
    »Und meine Kinder genügten ihm nicht?«, fragte Anaïs scharf. »Jemima? Und Stephen? Waren sie denn unwichtig? So unbedeutend für ihn, dass zwei fremde -«
    »Sie waren Guy nicht fremd«, korrigierte Ruth. »Er hatte Paul Fielder und Cynthia Moullin seit Jahren gekannt.« Länger als dich und deine Kinder, hätte sie gern hinzugefügt, tat es aber nicht, weil sie dieses Gespräch beendet sehen wollte, bevor es zu Dingen führte, über die zu sprechen sie nicht ertragen konnte. »Du weißt von dem Förderprogramm für benachteiligte Jugendliche, Anaïs. Du weißt, wie engagiert Guy war.«
    »Und so haben sie sich in sein Leben eingeschlichen. In der Hoffnung... Sie lernten Guy kennen, sie kamen hierher, sie sahen sich um und wussten, wenn sie es geschickt anstellten, bestand eine gute Chance, dass er ihnen etwas vermachen würde. So war es. Genau so.« Sie schleuderte das Kissen auf die Seite.
    Ruth staunte über Anaïs' Fähigkeit, sich etwas vorzumachen. Sie hätte beinahe gesagt: Und bei dir war es nicht so, meine Liebe? Du hast dich tatsächlich aus bedingungsloser Liebe an einen Mann gebunden, der beinahe fünfundzwanzig Jahre älter war als du? Das glaube ich dir nicht, Anaïs. Aber sie sagte stattdessen: »Ich denke, er vertraute darauf, dass Jemima und Stephen unter deiner Obhut im Leben gut vorankommen würden.
    Die anderen beiden hingegen... Sie haben nie die Vorteile gehabt, die deine Kinder genießen. Er wollte ihnen helfen.«
    »Und was ist mit mir? Was soll aus mir werden?«
    Ah, dachte Ruth, jetzt sind wir beim springenden Punkt angelangt. Aber sie wollte Anaïs auf ihre Frage nicht antworten und sagte deshalb nur: »Es tut mir Leid, meine Liebe.«
    »Ja, natürlich«, erwiderte Anaïs. Sie sah sich um, als wäre sie gerade wach geworden, und musterte ihre Umgebung, als erblickte sie sie zum ersten Mal. Sie nahm ihre Sachen und stand auf, um zu gehen. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich zu Ruth um. »Er hat Versprechungen gemacht«, sagte sie. »Er hat mir einiges gesagt, Ruth. Hat er mich belogen?«
    Ruth gab die einzige Antwort, von der sie glaubte, sie der anderen mit gutem Gewissen geben zu können. »Ich habe nie erlebt, dass mein Bruder gelogen hat.«
    Und er hatte auch nie gelogen, keine einziges Mal, nicht ihr gegenüber. Sois forte, hatte er zu ihr gesagt. Ne crains rien. Je reviendrai te chercher, petite sœr. Und er hatte sein Versprechen gehalten: Er war zurückgekommen, um sie aus der Pflegefamilie herauszuholen, zu der man sie in diesem schwer geplagten Land gebracht hatte und in der zwei Flüchtlingskinder aus Frankreich nur bedeuteten, dass man noch zwei Mäuler stopfen, noch zwei Pflegefamilien finden musste und sich nur darauf verlassen konnte, dass eines Tages ein dankbares Elternpaar kommen und sie holen würde. Als die Eltern nicht gekommen waren und das Ungeheuerliche, das in den Lagern geschehen war, bekannt wurde, war Guy gekommen. Um ihr die Angst zu nehmen, hatte er, sein eigenes Entsetzen

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