12 - Wer die Wahrheit sucht
tief eingeschüttete Bucht in der Nordküste der Insel mit drei sanft geschwungenen Stränden und einem Hafen, über dem ein Netz von Fußwegen zu militärischen Beobachtungstürmen und alten Forts führte. China würde mit Deborah zusammen zu Anaïs Abbott fahren, die in La Garenne ein Haus hatte, und St. James würde Chief Inspector Le Gallez im Polizeipräsidium aufsuchen, um von ihm möglichst viele Einzelheiten zu Cherokees Verhaftung zu erfahren.
Er sah seiner Frau und ihrer Freundin nach, als sie davonfuhren. Sie schossen in die Hospital Lane hinaus und folgten der Straße in Richtung zum Hafen. Er sah flüchtig die Kontur von Deborahs Wange, als der Wagen in die St. Julian's Avenue abbog. Seine Frau lächelte über irgendetwas, was ihre Freundin gerade gesagt hatte.
Einen Moment blieb er noch stehen und dachte daran, dass es so viele Wege gegeben hätte, seine Frau zu warnen, wäre sie bereit und fähig gewesen, auf ihn zu hören. Es geht nicht um das, was ich denke, hätte er ihr erklärt. Es geht um all das, was ich noch nicht weiß.
Auf dem Weg zum Präsidium hoffte er, Le Gallez würde die Lücken füllen.
Der Chief Inspector war gerade erst an seinem Arbeitsplatz eingetroffen. Als er St. James abholte, hatte er noch seinen Mantel an. Er legte ihn auf einem Stuhl in der Einsatzzentrale ab und führte St. James zu einem Anschlagbrett, auf dem ein uniformierter Constable gerade eine Reihe Farbfotos befestigte.
»Bitte«, sagte Le Gallez mit einem Nicken. Er wirkte sehr zufrieden mit sich.
Auf den Bildern war eine mittelgroße braune Flasche zu sehen, einer Hustensaftflasche ähnlich. Sie lag, wie es aussah, zwischen Erdfurchen mitten in welkem Gras und Unkraut. Ein Bild zeigte ihre Größe im Vergleich zu einem Plastiklineal. Ein anderes zeigte ihre Lage bezogen auf die Pflanzen, auf das Feld oder die Wiese, in der sie lag, auf die Hecke, die das Feld von der Straße abschirmte, auf die von Wäldern beschattete Straße, die St. James erkannte.
»Die kleine Straße, die zur Bucht führt«, sagte er.
»Richtig«, bestätigte Le Gallez.
»Und was ist es?«
»In der Flasche?« Le Gallez ging zu einem Schreibtisch und nahm einen Zettel zur Hand, von dem er laut ablas: Eschscholzia californica.«
»Und was ist das?«
»Mohnöl.«
»Da haben Sie also Ihr Opiat.«
Le Gallez grinste. »Genau.«
»Und californica heißt...«
»Genau das, was Sie vermuten. Seine Abdrücke sind auf der Flasche. Groß und deutlich. Eine Augenweide für jeden Polizisten.«
»Verdammt«, murmelte St. James mehr zu sich selbst.
»Wir haben den Täter.« Le Gallez schien sich seiner Sache absolut sicher, als wäre er nicht noch vor vierundzwanzig Stunden genauso sicher gewesen, dass sie die Täterin hatten.
»Und wie ist die Flasche dahin gekommen?«
Le Gallez zeigte mit einem Bleistift auf die Bilder, während er sprach. »Meiner Ansicht nach war es folgendermaßen: Keinesfalls hat er das Mittel am Abend vorher oder auch am frühen Morgen in die Thermosflasche gefüllt. Er musste damit rechnen, dass Brouard sie noch einmal ausspülen würde, bevor er seinen Tee hineingoss. Also ist er ihm zur Bucht gefolgt und hat das Öl in die Kanne gegossen, während Brouard draußen herumschwamm.«
»Und hat es riskiert, gesehen zu werden?«
»Wo war das Risiko? Es ist noch dunkel, da braucht er nicht zu fürchten, dass schon jemand unterwegs ist. Für den Fall des Falles trägt er den Umhang seiner Schwester. Brouard schwimmt in die Bucht hinaus und achtet nicht auf den Strand. River kann gemütlich warten, bis er draußen ist. Dann schleicht er sich zu der Thermosflasche - er ist Brouard ja gefolgt, also weiß er, wo der die Flasche abgestellt hat - und gießt das Öl rein. Danach versteckt er sich irgendwo - in den Bäumen, hinter einem Felsen, bei der Imbissbude. Er wartet, bis Brouard aus dem Wasser kommt und den Tee trinkt, wie er das jeden Morgen tut. Jeder weiß das. Ginkgo und Grüntee. Das gibt Muskeln und Feuer in den Eiern. Was Brouard braucht, um seine Freundin zufrieden zu stellen. River wartet, bis das Opiat wirkt. Sobald es so weit ist, legt er los.«
»Und wenn es unten am Strand noch nicht gewirkt hätte?«
»Das konnte ihm doch egal sein.« Le Gallez zuckte vielsagend die Schultern. »Es war immer noch nicht richtig hell, und das Zeug hätte spätestens irgendwo auf Brouards Heimweg gewirkt. Er hätte ihn sich auf jeden Fall geschnappt, ganz gleich, wo. Als es dann unten am Strand so weit war, hat er ihm den
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