12 - Wer die Wahrheit sucht
den Rücken. Oder Schlimmeres.«
Er hatte damals fünf Jahre absitzen müssen. Die kalifornischen Gefängnisse, hatte China erklärt, hielten ihre Türen immer für ihren Vater offen.
Jetzt sagte sie: »Er weiß nicht, was ihn da drinnen erwartet.«
»So weit wird es nicht kommen«, versicherte ihr Deborah. »Wir klären das, und dann könnt ihr beide nach Hause fliegen.«
»Weißt du, ich habe immer damit gehadert, so arm zu sein und jeden Penny zweimal umdrehen zu müssen. Ich fand das furchtbar. Als ich auf der Highschool war, hab ich gearbeitet, nur damit ich mir mal ein paar Schuhe in einem Billigkaufhaus leisten konnte. Jahrelang hab ich bedient, um das Geld für die Fotoschule zusammenzukriegen. Und diese Wohnung in Santa Barbara! Mein Gott haben wir damals in einem Loch gehaust, Debs. Ich hatte es alles so satt. Aber ich würde es auf der Stelle alles wieder auf mich nehmen, nur um aus dieser Situation herauszukommen. Meistens treibt er mich ja zur Weißglut. Ich hatte immer Angst, abzuheben, wenn das Telefon klingelte, weil ich dachte, es wäre Cherokee mit seinem üblichen: ›Hey, Chine. Das musst du hören. Ich hab einen tollen Plan!‹ Ich wusste jedes Mal sofort, dass es entweder etwas sein würde, das nicht ganz astrein war, oder etwas, wofür er Geld von mir haben wollte. Aber jetzt - jetzt, in diesem Moment - würde ich so ziemlich alles geben, um mit meinem Bruder am Pier in Santa Barbara stehen zu können und mir seine neueste Idee erklären zu lassen.«
Impulsiv nahm Deborah die Freundin in den Arm. Zuerst war China steif und abwehrend, aber Deborah hielt sie fest, bis sie spürte, wie sie weich wurde. »Wir holen ihn raus«, sagte sie. »Wir holen euch beide da raus. Ihr werdet nach Hause fliegen.«
Sie gingen zum Wagen zurück. Als Deborah zurücksetzte und wendete, um wieder auf die Hauptstraße hinauszufahren, sagte China: »Wenn ich gewusst hätte, dass sie als Nächstes ihn holen... Ich weiß, das klingt märtyrerhaft, aber ich glaube, ich würde lieber selbst ins Gefängnis gehen.«
»Niemand geht ins Gefängnis«, sagte Deborah. »Dafür wird Simon sorgen.«
China schaute auf die Karte, die sie aufgeschlagen auf dem Schoß hielt. Zaghaft sagte sie: »Er ist überhaupt nicht wie... Er ist ganz anders... Ich hätte nie gedacht...« Sie gab auf. Dann sagte sie: »Er scheint sehr nett zu sein, Deborah.«
Deborah sah sie kurz an und vollendete für sie: »Aber er ist überhaupt nicht wie Thomas Lynley, richtig?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe den Eindruck - ich weiß nicht -, als wärst du irgendwie unfrei mit ihm? Nicht so unbefangen, wie du mit Tommy warst. Ich erinnere mich, wie du mit ihm gelacht hast. Was ihr für Dummheiten gemacht habt. Wie ausgelassen ihr wart. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du mit Simon auch so bist.«
»Nein?« Deborah lächelte, aber es war ein gezwungenes Lächeln. Was die Freundin sagte, war wahr - ihre Beziehung mit Simon unterschied sich grundlegend von der Zeit mit Tommy -, aber ihre Bemerkungen wirkten wie eine Kritik an Simon, so dass Deborah sich genötigt fühlte, ihn zu verteidigen, und das war ein Gefühl, das ihr gar nicht gefiel. »Vielleicht kommt das daher, dass du uns beide jetzt unter ziemlich ernsten Umständen erlebst.«
»Nein, ich glaube nicht, dass es das ist«, widersprach China. »Wie du eben gesagt hast, er ist anders als Tommy. Vielleicht kommt es... du weißt schon. Von seinem Bein. Dass er das Leben deswegen ernster nimmt?«
»Vielleicht ist es einfach so, dass er mehr Grund hat, das Leben ernst zu nehmen.« Deborah wusste, dass das nicht unbedingt stimmte. Als Kriminalbeamter bei der Mordkommission hatte Tommy beruflich mit weit schlimmeren Dingen zu tun als Simon in seiner Arbeit. Aber sie suchte nach einem Weg, der Freundin ihren Mann zu erklären, ihr begreiflich zu machen, dass ein liebender Mann, der beinahe ganz in seinem eigenen Kopf lebte, gar nicht so schrecklich anders war als ein liebender Mann, der offen und leidenschaftlich war und das Leben beim Schopf packte. Das kommt daher, dass Tommy sich das alles leisten kann, hätte Deborah gern zur Verteidigung ihres Mannes vorgebracht. Nicht weil er Geld hat, sondern weil er der ist, der er ist. Ein Mensch mit einer großen Selbstsicherheit, wie andere Männer sie nicht haben.
»Du sprichst von seiner Behinderung?«, fragte China nach einem kurzen Schweigen. »Was?«
»Dass die der Grund ist, dass er das Leben ernster nimmt.«
»Ich bemerke seine
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