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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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dreiundfünfzig Jahre seines Lebens auf dem Altar der Verehrung seines Vaters geopfert und dann entdecken müssen, dass sein großes Idol das goldene Kalb angebetet hatte. Der Schmerz, den ihm diese unerwünschte Erkenntnis bereitete, war unerträglich. Die Wut, die mit ihm einherging, war so groß, dass sie ihn wie eine Flutwelle packte und zerschmetterte. Bis ins Innerste erschüttert, sagte er: »Ich war ein kleiner Junge. Ich habe dir geglaubt...« Seine Stimme brach bei den Worten.
    Graham zog seine Hose hoch. »Was ist denn das? Tränen? Ist das alles, was du in dir hast? Wir hatten allen Grund zu heulen, damals. Fünf lange Jahre die Hölle auf Erden, Frankie. Fünf Jahre lang, mein Junge. Hast du uns weinen hören? Hast du je erlebt, dass wir dagestanden und die Hände gerungen und uns gefragt haben, was wir tun sollen? Hast du uns wie die Lämmer darauf warten sehen, dass irgendjemand endlich die Jerrys von unserer Insel jagt? Nichts Dergleichen. Wir haben Widerstand geleistet, o ja. Wir haben das V gemalt. Wir haben unsere Rundfunkempfänger im Dreck versteckt. Wir haben Telefonleitungen durchgeschnitten und unsere Straßenschilder abmontiert und die Leute aus den Arbeitslagern versteckt, wenn sie es schafften, zu fliehen. Wir haben britische Soldaten aufgenommen, die als Spione hier gelandet sind, obwohl wir dafür auf der Stelle hätten erschossen werden können. Aber haben wir geflennt wie die kleinen Kinder? Haben wir gejammert und gewinselt? Keine Spur. Wir haben es wie Männer getragen. Weil wir Männer waren.« Er wandte sich zur Treppe.
    Frank sah seinem Vater ungläubig nach. Seine persönliche Version der Geschichte war so fest in seinem Bewusstsein verwurzelt, dass es schwer werden würde, überhaupt an ihr zu rütteln. Der Beweis, den Frank in der Hand hatte, existierte für ihn nicht, weil er nicht zulassen konnte, dass er existierte. Zuzugeben, dass er ehrenhafte Männer verraten hatte, käme einem Mordgeständnis gleich. Ein solches Geständnis würde er niemals ablegen. Niemals. Wieso, fragte sich Frank, hatte er je etwas anderes geglaubt?
    Draußen auf der Treppe packte sein Vater den Handlauf des Geländers. Beinahe wäre Frank zu ihm geeilt, um ihm wie immer zu helfen, aber er merkte, dass er es nicht über sich brachte, den alten Mann so anzufassen wie sonst. Er hätte ihm seine rechte Hand auf den Arm legen und den linken Arm um die Körpermitte schlingen müssen, aber er konnte nicht einmal den Gedanken an diese Berührung ertragen. Er blieb stehen und sah zu, wie sein Vater sich mühevoll eine Stufe nach der anderen hinaufschleppte.
    »Sie kommen«, sagte Graham, mehr zu sich als zu seinem Sohn. »Ich habe sie angerufen. Es ist Zeit, dass jemand erzählt, wie's wirklich war, und ich werde es tun. Jetzt werden Namen genannt. Und die Strafe wird folgen.«
    Franks Stimme war die des ohnmächtigen kleinen Kindes, als er sagte: »Aber, Dad, du kannst doch nicht -«
    »Sag du mir nicht, was ich kann oder nicht kann!«, bellte sein Vater. »Wag es nicht noch einmal, deinem Vater zu sagen, was er zu tun und zu lassen hat. Wir haben gelitten. Einige von uns sind ums Leben gekommen. Und die, die daran schuld sind, werden dafür bezahlen, Frank. Und damit Schluss. Hast du gehört? Damit Schluss.«
    Er wandte sich ab und umfasste den Handlauf fester. Er taumelte, als er den Fuß hob, um die nächste Stufe zu erklimmen und begann zu husten.
    Da setzte sich Frank in Bewegung. Denn die Antwort war so einfach und lag mitten im Herzen der Dinge. Sein Vater redete über die einzige Wahrheit, die er kannte. Aber die Wahrheit, die sie teilten - Vater und Sohn -, war die Tatsache, dass jemand bezahlen musste.
    Frank erreichte die Treppe und rannte hinauf. Er blieb stehen, als Graham in Reichweite war. Er sagte: »Dad. Oh, Dad«, und ergriff die Hosenaufschläge seines Vaters. Er riss an ihnen, kurz und fest und trat zur Seite, als Graham vornüberstürzte.
    Sein Vater schlug mit dem Kopf auf der obersten Stufe auf. Er stürzte, stieß einen erschrockenen Aufschrei aus, und als er dann mit wachsender Geschwindigkeit die Treppe hinunterrutschte, war er still.

21
    St. James und Deborah frühstückten am nächsten Morgen an einem Fenster mit Blick auf den kleinen Hotelgarten, wo ungebändigte Büschel von Stiefmütterchen eine bunte Borte um ein Stück Rasen bildeten. Gerade besprachen sie ihre Pläne für den bevorstehenden Tag, als China zu ihnen an den Tisch trat, von Kopf bis Fuß in Schwarz, so dass sie

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