12 - Wer die Wahrheit sucht
James unterbrach ihn. »Wenn Sie unbedingt glauben wollen, dass River dabei die Hände im Spiel hatte - bei einer Erpressung großen Stils, sagen wir mal -, dann erklären Sie mir, warum er die Gans töten sollte, solange sie noch die goldenen Eier legte? Und wenn River wirklich Brouard erpresst hat, warum sollte Brouard dann ihn - ausgerechnet ihn! - als Kurier akzeptieren? Kiefer, der Anwalt, hätte ihm auf jeden Fall vor Rivers Ankunft dessen Namen genannt, denn sonst hätte Brouard ja nicht gewusst, wen er vom Flughafen abholen soll. Glauben Sie nicht, dass er das Unternehmen abgeblasen hätte, sobald er den Namen River hörte?«
»Er hat es nicht rechtzeitig erfahren«, konterte Le Gallez, aber er schien sich seiner Sache nicht mehr so sicher zu sein.
St. James ließ nicht locker. »Inspector, Ruth Brouard hatte keine Ahnung, dass ihr Bruder dabei war, sein Vermögen durchzubringen. Ich vermute, das wusste auch sonst keiner. Wäre es da nicht logisch, anzunehmen, dass jemand ihn umgebracht hat, weil er verhindern wollte, dass er sein ganzes Vermögen aufbrauchte? Und wenn nicht das, wäre es dann nicht logisch, anzunehmen, dass er in irgendwelche illegalen Geschäfte verwickelt war? Und lässt sich daraus nicht ableiten, dass andere als die beiden Rivers weit triftigere Gründe hatten, ihn zu töten?«
Le Gallez schwieg. St. James sah ihm an, dass es ihm peinlich war, mit Erkenntnissen über sein Mordopfer konfrontiert zu werden, über die er selbst hätte verfügen müssen. Er sah zum Anschlagbrett hinauf, wo die Bilder mit der Opiatflasche davon kündeten, dass der Mörder gefasst war. Er sah St. James an und schien über die Herausforderung nachzudenken, die dieser ihm hingeworfen hatte. Schließlich sagte er: »Gut. Kommen Sie mit. Wir müssen telefonieren.«
»Mit wem?«, fragte St. James.
»Mit den einzigen Leuten, die es schaffen, Banker zum Reden zu bringen.«
China war eine ausgezeichnete Navigatorin. Dort, wo es Schilder gab, rief sie die Namen der Straßen, an denen sie auf ihrer Fahrt nach Norden vorüberkamen, und lotste Deborah ohne ein einziges falsches Manöver zur Vale Road am Nordende der Belle-Greve-Bucht.
Sie durchfuhren einen kleinen Vorort mit Lebensmittelgeschäft, Frisör und Autowerkstatt, und an einer Verkehrsampel - eine der wenigen auf der Insel - bogen sie nach Nordwesten ab. Wie es dem Abwechslungsreichtum der Landschaft auf der Insel entsprach, gelangten sie keine zwei Kilometer weiter in landwirtschaftlich genutztes Gebiet mit Wiesen und langen Reihen Gewächshäusern, die im Morgenlicht blitzten. Nach ein paar hundert Metern erkannte Deborah, wo sie waren, und wunderte sich, dass sie es nicht früher bemerkt hatte. Sie warf ihrer Freundin einen vorsichtigen Blick zu und sah, dass auch sie wusste, wo sie sich befanden.
Als sie zur Abzweigung zum staatlichen Gefängnis kamen, sagte China abrupt: »Halte doch bitte mal hier an.« In einer Parkbucht etwa zwanzig Meter weiter bremste Deborah, und China stieg aus und trat zu der Hecke aus Weißdorn und Schlehdorn. In der Ferne dahinter erhoben sich zwei der Gebäude, die zum Gefängnis gehörten. Der Komplex mit den blassgelben Mauern und den rot gedeckten Dächern hätte eine Schule oder ein Krankenhaus sein können. Nur die vergitterten Fenster verrieten seine Bestimmung.
Deborah gesellte sich zu ihrer Freundin. China wirkte verschlossen, und Deborah wollte sie nicht stören. Darum blieb sie schweigend neben ihr stehen. Sie litt unter ihrer eigenen Unzulänglichkeit, besonders wenn sie an die Freundschaft dachte, die ihr diese Frau entgegengebracht hatte, als sie, Deborah, unglücklich gewesen war.
China brach schließlich das Schweigen. »Er könnte nie damit fertig werden. Nie im Leben!«
»Ich weiß nicht, wie irgendjemand das könnte.« Deborah stellte sich vor, wie die Gefängnistüren zufielen und der Schlüssel umgedreht wurde und dachte an die endlose Zeit: Tage, die zu Wochen und Monaten verschmolzen, bis endlich Jahre vergangen waren.
»Für Cherokee wäre es schlimmer«, sagte China. »Für Männer ist es immer schlimmer.«
Deborah warf ihr einen Blick zu. Sie erinnerte sich an Chinas Schilderung - Jahre war das her - ihres einzigen Besuchs bei ihrem Vater im Gefängnis. »Seine Augen«, hatte sie gesagt. »Er konnte nicht ruhig sitzen bleiben. Wir saßen uns an einem Tisch gegenüber, und jedes Mal, wenn direkt hinter ihm jemand vorbeiging, ist er herumgefahren, als hätte er Angst, er bekäme ein Messer in
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