12 - Wer die Wahrheit sucht
würde.
Guy sagte: »Ruth.«
»Nein!«, erwiderte Ruth. Und zu dem Mädchen: »Zieh dich an und verschwinde. Wenn dein Vater dich sehen könnte -«
Weiter kam sie nicht. Guy trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. Wieder sprach er ihren Namen. Dann sagte er ihr leise ins Ohr: »Wir möchten jetzt gern allein sein, Ruthie, wenn du nichts dagegen hast. Wir hatten ja keine Ahnung, dass du so zeitig nach Hause kommen würdest.«
Die ruhige Sachlichkeit von Guys Worten unter diesen Umständen, wo man ruhige Sachlichkeit am wenigsten erwartet hätte, bewog Ruth, das Zimmer zu verlassen. Sie trat in den Korridor hinaus. Guy murmelte: »Wir reden später«, und schloss die Tür. Bevor sie ganz geschlossen war, hörte Ruth ihn sagen: »Dann werden wir jetzt wohl ohne den Schal auskommen müssen.« Der alte Fußboden knarrte unter seinen Schritten, als er zu dem Mädchen ging, und das alte Bett quietschte, als er sich zu ihr legte.
Später - Stunden, wie es schien, obwohl es wahrscheinlich nicht mehr als eine halbe Stunde war - rauschte eine Zeit lang das Wasser, und ein Fön summte. Ruth lag auf ihrem Bett und lauschte den Geräuschen, häusliche und alltägliche Geräusche, dass sie sich beinahe hätte einbilden können, dass alles, was sie gesehen hatte, Täuschung gewesen wäre.
Aber das erlaubte Guy ihr nicht. Er kam zu ihr, sobald Cynthia gegangen war. Es war dunkel geworden, und Ruth hatte noch kein Licht gemacht. Sie hätte es vorgezogen, auf unbestimmte Zeit im Dunkeln zu bleiben, aber auch das erlaubte er ihr nicht. Er trat an ihren Nachttisch und knipste die Lampe an. »Ich wusste, du würdest noch nicht schlafen«, sagte er.
Er sah sie lange an, sagte leise: »obere soeur«, und schien so tief erschüttert, dass Ruth im ersten Moment glaubte, er wolle sie um Verzeihung bitten. Sie irrte sich.
Er ging zu dem kleinen gepolsterten Sessel und ließ sich hineinsinken. Er sah verzückt aus, fand Ruth, wie in eine andere Welt versetzt.
»Sie ist die Richtige«, sagte er in einem Ton, als wäre ihm eine Heilige erschienen. »Endlich ist sie zu mir gekommen. Kannst du dir das vorstellen, Ruth? Nach so vielen Jahren? Sie ist es, ganz eindeutig.« Er stand auf, als ließen sich die Emotionen, die ihn bewegten, nicht zurückhalten, und begann im Zimmer umherzugehen. Während er sprach, berührte er die Vorhänge am Fenster, den Rand von Ruths Stickerei, die Ecke der Kommode, die Spitze an einem Zierdeckchen. »Wir werden heiraten«, sagte er. »Ich sage dir das nicht, weil du uns heute - in dieser Situation vorgefunden hast. Ich wollte es dir nach ihrem Geburtstag sagen. Wir wollten es dir zusammen sagen.«
Nach ihrem Geburtstag. Ruth starrte ihren Bruder an. Sie fühlte sich in einer Welt gefangen, die sie nicht wiedererkannte, die einzig von der Maxime beherrscht schien: Wenn es gut tut, dann tu's; erklären kannst du es später, aber nur, wenn du ertappt wirst.
Guy sagte: »Sie wird in drei Monaten achtzehn. Wir haben an ein kleines Abendessen gedacht... Du, ihr Vater und ihre Schwestern. Vielleicht kommt Adrian aus England herüber. Wir haben uns überlegt, dass ich ihr den Ring zu den Geschenken lege, und wenn sie sie öffnet...« Er lachte. Er sah, das musste Ruth zugeben, richtig jungenhaft aus. »Das wird eine Überraschung! Kannst du es bis dahin für dich behalten?«
»Das ist«, begann Ruth, aber sie konnte es mit Worten nicht ausdrücken. Sie konnte es nur denken, und was sie dachte, war zu entsetzlich, um es zur Kenntnis zu nehmen. Darum wandte sie den Kopf ab.
»Ruth«, sagte Guy, »du hast nichts zu fürchten. Dein Zuhause ist und bleibt bei mir. Cyn weiß das und will es auch so. Sie liebt dich wie...« Aber er sprach den Satz nicht zu Ende.
So konnte sie ihn vollenden. »Wie eine Großmutter«, sagte sie.
»Und was bist dann du?«
»Das Alter spielt in der Liebe keine Rolle.«
»Mein Gott. Du bist fünfzig Jahre -«
»Ich weiß, wie viel älter ich bin«, fuhr er sie an. Er kam wieder ans Bett und blickte zu ihr hinunter. Sein Gesicht drückte Verwirrung aus. »Ich dachte, du würdest diesen Moment feiern. Uns beide feiern. Dass wir uns lieben und uns ein gemeinsames Leben wünschen.«
»Wie lang?«, fragte sie.
»Niemand weiß, wie lange er lebt.«
»Ich meinte, wie lange geht das schon. Heute. Das kann nicht. Dazu wirkte sie viel zu vertraut mit dir.«
Guy antwortete nicht gleich, und Ruth bekam feuchte Hände, als ihr klar wurde, was sein Zögern bedeutete. »Sag es mir«,
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