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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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irgendeinem Grund notwendig gewesen wäre, sondern weil es ihr Beschäftigung bot, und die suchte sie. Sie wollte etwas tun, was eine Beziehung zu Guy hatte, etwas, das sie ihm nahe genug bringen würde, um seine tröstliche Präsenz zu fühlen, aber doch nicht so nahe, dass sie fürchten musste, noch mehr über die vielerlei Arten zu erfahren, wie er sie getäuscht hatte.
    Sie trat zum Schrank und nahm das Tweedjackett vom Bügel, das er am liebsten getragen hatte. Nachdem sie sich einen Moment Zeit genommen hatte, um den vertrauten Duft seines Rasierwassers einzuatmen, entleerte sie nacheinander alle Taschen: ein Taschentuch, eine Rolle Pfefferminzdrops, ein Kugelschreiber und ein Zettel, der, wie an seinem ausgefransten Rand zu erkennen, aus einem kleinen Spiralheft herausgerissen war. Er war zu einem winzigen Quadrat gefaltet, das Ruth öffnete. C + G = Immer und Ewig, stand in unverkennbar kindlicher Handschrift darauf geschrieben. Ruth knüllte den Zettel hastig zusammen und ertappte sich dabei, dass sie nach rechts und links schaute, als fürchtete sie, jemand könnte sie beobachten, irgendein Racheengel, der einen Beweis suchte, wie sie ihn soeben ohne es zu wollen, entdeckt hatte.
    Aber sie benötigte sowieso keinen Beweis mehr, denn man brauchte keinen Beweis für etwas, von dem man wusste, dass es eine ungeheuerliche Tatsache war, weil man die Wahrheit mit eigenen Augen gesehen hatte.
    Ruth fühlte das gleiche Gefühl des Ekels wie an dem Tag, als sie unerwartet früh von ihrem Samaritertreffen nach Hause gekommen war. Damals hatte sie für den Grund ihrer ständigen Schmerzen noch keine Diagnose erhalten gehabt. Sie hatte es Arthritis genannt und Aspirin geschluckt und das Beste gehofft. Aber an diesem besonderen Tag waren die Schmerzen so stark, dass sie zu nichts zu gebrauchen war und nur noch nach Hause in ihr Bett wollte. Sie hatte das Treffen lange vor Schluss verlassen und war nach Le Reposoir zurückgefahren.
    Das Treppensteigen war ein Kraftakt gewesen: ihr Wille gegen die Schwäche. Sie gewann den Kampf und schleppte sich durch den Korridor zu ihrem Schlafzimmer, das sich neben Guys befand. Ihre Hand lag auf dem Türknauf, als sie das Gelächter hörte. Dann die Stimme eines jungen Mädchens, das rief: »Nicht, Guy! Das kitzelt!«
    Ruth blieb wie erstarrt stehen. Sie kannte diese Stimme, und weil sie sie kannte, konnte sie sich nicht von der Tür weg bewegen. Sie konnte sich nicht bewegen, weil sie es nicht glauben konnte. Und aus diesem Grund versuchte sie, sich einzureden, dass es für das, was ihr Bruder mit einem Teenager in seinem Schlafzimmer trieb, wahrscheinlich eine ganz einfache Erklärung gab.
    Wäre sie unverzüglich aus dem Korridor verschwunden, so hätte sie vielleicht an dieser Illusion festhalten können. Doch ehe sie überhaupt an Verschwinden denken konnte, flog die Tür zum Zimmer ihres Bruders auf. Guy trat heraus, im Begriff, einen Morgenmantel um seinen nackten Körper zu werfen, während er gleichzeitig ins Zimmer hinter sich rief: »Dann nehme ich einen von Ruths Schals. Das gefällt dir bestimmt.«
    Als er sich umdrehte, entdeckte er seine Schwester. Sein erhitztes Gesicht wurde schlagartig leichenblass, das wenigstens konnte man zu seiner Ehre sagen, aber das war auch das Einzige. Ruth ging einen Schritt auf ihn zu, aber er packte den Knauf der Tür und schloss sie. Hinter ihm rief Cynthia Moullin: »Was ist denn? Guy?«, während Guy und seine Schwester einander anstarrten.
    Ruth sagte: »Geh zur Seite, frere«, und gleichzeitig stieß Guy heiser hervor: »Um Gottes willen, Ruth. Wieso bist du zu Hause?«
    Sie antwortete: »Um zu sehen, vermute ich«, und drängte sich an ihm vorbei zur Tür.
    Er hatte nicht versucht, sie aufzuhalten, und darüber machte sie sich jetzt ihre Gedanken. Es war beinahe so, als hätte er gewollt, dass sie alles sah: das junge Mädchen auf dem Bett - schlank, schön, nackt, frisch und unverbraucht - und die Quaste, mit der er sie gekitzelt hatte, auf ihrem Oberschenkel.
    »Zieh dich an«, sagte sie zu Cynthia Moullin.
    »Das werde ich nicht tun«, antwortete das Mädchen.
    Sie waren wie erstarrt, alle drei, Schauspieler, die auf ein Stichwort warteten, das nicht kam: Guy an der Tür, Ruth beim Schrank, das Mädchen auf dem Bett. Cynthia sah Guy an und zog eine Augenbraue hoch, und Ruth fragte sich, wie ein halbwüchsiges Mädchen in so einer Situation so selbstsicher aussehen konnte. Als wüsste sie genau, was als Nächstes geschehen

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