12 - Wer die Wahrheit sucht
es nicht ab und schaute sie an, als wollte er sie herausfordern, ihn zu belehren. Aber das hatte sie ein Mal gewagt, nur ein einziges Mal, mochte Gott ihr verzeihen. Und sie war nur gekommen, um sich zu vergewissern, dass ihre Worte: »Henry, du musst etwas unternehmen«, keine unverzeihlichen Folgen gehabt hatten.
»Ist sie ausgegangen?«, fragte sie.
»Sie weigert sich, aus ihrem Zimmer zu kommen.«
»Hast du das Schloss vor der Tür abgenommen?«
»Es ist jetzt nicht mehr nötig.«
»Nicht mehr nötig?« Es fröstelte sie. Sie schlang die Arme fest um ihren Oberkörper, obwohl es im Haus nicht kalt war.
»Nicht mehr nötig«, bestätigte Henry und ging, als wollte er etwas demonstrieren, zum Spülbecken unter dem tropfenden Wasserhahn. Mit dem Holzlöffel fischte er ein Wäschestück heraus.
Es war ein Höschen. Er hielt es hoch und ließ das Wasser auf den Boden tropfen, wo sich eine Pfütze bildete. Valerie konnte den schwachen Fleck erkennen, der trotz des Einweichens und des Bleichmittels nicht ganz herausgegangen war. Eine Welle der Übelkeit erfasste sie, als sie begriff, warum ihr Bruder seine Tochter in ihrem Zimmer festgehalten hatte.
»Also nicht«, sagte sie.
»Wenigstens ein Lichtblick.« Er wies mit dem Kopf in Richtung der Schlafzimmer. »Sie kommt nicht raus. Du kannst ja versuchen, mit ihr zu reden, wenn du Lust hast, aber sie hat von innen abgesperrt und jammert wie eine Katze, der man die Jungen ertränkt hat. Dieses dumme Ding!« Er klappte den Deckel der Waschmaschine zu, drückte auf ein paar Knöpfe und schaltete sie ein.
Valerie ging zum Zimmer ihrer Nichte. Sie klopfte und sagte: »Cynthia? Ich bin's, Tante Val, Schatz. Machst du mir auf?« Drinnen blieb alles still. Valerie fürchtete das Schlimmste. »Cynthia?«, rief sie. »Cynthia! Ich möchte mit dir reden. Bitte mach die Tür auf.« Wieder war die einzige Antwort Stille. Totenstille. Unmenschliche Stille. Valerie war überzeugt, dass diese Stille bei einer Siebzehnjährigen, die bisher geweint und geklagt hatte, nur einen Grund haben konnte. Sie rannte zu ihrem Bruder.
»Wir müssen das Zimmer aufbrechen«, sagte sie. »Ich habe Angst, dass sie sich was angetan -«
»Unsinn. Sie kommt schon wieder raus, wenn ihr danach ist.« Er lachte bitter. »Vielleicht gefällt's ihr da drinnen.«
»Henry, du kannst das Kind nicht einfach -«
»Sag du mir nicht, was ich zu tun habe«, brüllte er sie an. »Halt du in Zukunft einfach deinen gottverdammten Mund. Du hast ihn weit genug aufgerissen. Du hast dein Teil getan. Mit dem Rest werde ich auf meine Weise fertig.«
Davor hatte sie die größte Angst: Wie ihr Bruder damit fertig werden wollte. Denn er musste mit weit mehr fertig werden, als der heimlichen Liebschaft seiner Tochter. Wäre es ein junger Mann aus der Stadt gewesen, aus der Schule, dann hätte Henry Cynthia vor den Gefahren gewarnt und alles getan, um sie vor den Auswirkungen eines vielleicht flüchtigen, aber dennoch emotional aufgeladenen, sexuellen Abenteuers zu bewahren, weil das alles neu für sie war. Aber dies hier war etwas anderes gewesen als ein neugieriger erster Ausflug einer heranwachsenden Tochter in die Sexualität. Dies war eine Verführung gewesen und ein so gemeiner Verrat, dass Henry seiner Schwester nicht geglaubt hatte, als sie es ihm gesagt hatte. Er hatte es nicht über sich gebracht, ihr zu glauben. Er hatte sich vor der Erkenntnis zurückgezogen wie ein Tier, das einen betäubenden Schlag erhalten hat.
Sie hatte gesagt: »Glaub mir, Henry. Es ist die Wahrheit, und wenn du nicht etwas tust, dann weiß Gott, was aus dem Kind wird.«
Das waren die verhängnisvollen Worte gewesen: Wenn du nicht etwas tust. Die Affäre war vorbei, und Valerie musste wissen, was er getan hatte.
Henry sah sie lange an, nachdem er sie angeschrien hatte, und die Worte auf meine Weise dröhnten ihnen beiden in den Ohren. Valerie hob die Hand zum Mund und drückte sie auf die Lippen, als könnte sie sich so daran hindern, auszusprechen, was sie dachte, was sie am meisten fürchtete.
Henry durchschaute sie so leicht wie immer. Er sah sie mit einem Blick von oben bis unten an und sagte: »Schuldgefühle, Val? Mach dir keine Sorgen.«
Ihr erleichtertes »O Henry, Gott sei Dank, ich...« unterbrach er mit den Worten: »Du warst nicht die Einzige, die es mir gesagt hat.«
22
Ruth betrat das Zimmer ihres Bruders zum ersten Mal seit seinem Tod. Sie hatte beschlossen, seine Kleider durchzusehen. Nicht weil das aus
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