12 - Wer die Wahrheit sucht
hin und her flogen, und die scheinbar beiläufigen Berührungen - eine flüchtige Begegnung von Hand und Arm. Sie war den beiden daraufhin gefolgt, hatte sie beobachtet und abgewartet. Als sie danach das Mädchen zur Rede stellte, hatte sie das Schlimmste erfahren.
Sie hatte es Henry sagen müssen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, als Cynthia sich von dieser Geschichte nicht abbringen ließ. Und jetzt hingen die Konsequenzen ihres Handelns über ihr wie ein Damoklesschwert.
Sie ging zwischen den Trümmern des einst fantastischen Gartens hindurch. Henrys Wagen stand neben dem Haus, nicht weit von der Scheune, in der er seine Werkstatt hatte. Doch das Tor war geschlossen und abgesperrt. Sie ging weiter zur Haustür und sammelte sich einen Moment, ehe sie klopfte.
Er ist mein Bruder, sagte sie sich. Sie hatte keinen Grund zur Beunruhigung oder gar Angst. Sie hatten gemeinsam eine schwierige Kindheit mit einer verbitterten Mutter gemeistert, die - wie später ihr Sohn - von einem treulosen Ehepartner verlassen worden war. Sie waren nicht nur durch das gleiche Blut miteinander verbunden, sondern vor allem durch Erinnerungen, die so tief gingen, dass nichts jemals verdrängen konnte, was sie damals gelernt hatten: sich gegenseitig zu stützen, einander den Vater, der sich physisch entzogen, und die Mutter, die sich emotional entzogen hatte, zu ersetzen. Sie hatten den Mangel an elterlicher Fürsorge für unwichtig erklärt und sich geschworen, ihr Leben davon nicht beeinflussen zu lassen. Dass sie an diesem Vorsatz gescheitert waren, war niemandes Schuld, an Entschlossenheit und Bemühen hatte es gewiss nicht gefehlt.
Die Haustür wurde aufgemacht, noch ehe sie klopfen konnte. Ihr Bruder stand mit einem Wäschekorb auf der Hüfte vor ihr. Sein Gesicht war so finster, wie sie es noch nie gesehen hatte. »Val«, sagte er. »Was, zum Teufel, willst du hier?« Damit ging er zum Anbau hinter der Küche, der als Waschraum diente.
Sie sah, als sie ihm folgte, dass er die Wäsche immer noch so sortierte, wie sie es ihn gelehrt hatte. Weiße, dunkle und bunte Wäsche sorgfältig voneinander getrennt, Handtücher extra.
Er bemerkte ihren Blick, und ein Ausdruck der Selbstverachtung flog über sein Gesicht. »Manche Lektionen lernt man für die Ewigkeit«, sagte er.
»Ich habe versucht, dich anzurufen«, sagte sie. »Warum hast du nie abgenommen. Du warst doch zu Hause.«
»Keine Lust.« Er öffnete die Waschmaschine und nahm die fertig gewaschene Wäsche heraus, um sie in den Trockner zu werfen. Nebenan tropfte Wasser in ein Spülbecken, in dem irgendetwas eingeweicht war. Henry warf einen kurzen Blick ins Becken, gab einen Spritzer Bleiche hinein und rührte ein paar Mal kräftig mit einem langen Holzlöffel um.
»Fürs Geschäft ist das aber nicht gut«, sagte Valerie. »Es könnte doch sein, dass jemand einen Auftrag für dich hat.«
»Ans Handy bin ich ja gegangen«, erwiderte er. »Die geschäftlichen Anrufe laufen alle übers Handy.«
Valerie ärgerte sich. An das Handy hatte sie nicht gedacht. Wieso nicht? Weil sie viel zu verängstigt und besorgt und von Schuldgefühlen geplagt gewesen war, um an etwas anderes als an die Beruhigung ihrer flatternden Nerven zu denken. »Oh«, sagte sie. »Das Handy. Daran hab ich gar nicht gedacht.«
»Genau«, sagte er und stopfte die nächste Ladung Wäsche in die Maschine. Jeans, Pullis, Socken der Mädchen. »Du hast überhaupt nicht gedacht, Val.«
Die Verachtung in seinem Ton tat weh, aber sie war entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen. »Wo sind die Mädchen, Harry?«, fragte sie.
Er sah sie kurz an, als sie seinen Spitznamen benutzte. Flüchtig konnte sie hinter die Maske der Ablehnung, die er trug, wieder den kleinen Jungen erkennen, den sie an der Hand genommen hatte, wenn sie über die Esplanade gegangen waren, um unten bei der Havelet-Bucht zu baden. Vor mir kannst du dich nicht verstecken, Harry, hätte sie gern gesagt. Aber stattdessen wartete sie auf seine Antwort.
»In der Schule. Wo sonst?«
»Ich hab eigentlich Cyn gemeint«, bekannte sie.
Er schwieg.
Sie sagte: »Harry, du kannst sie nicht einsperren -«
Er zeigte mit dem Finger auf sie und sagte: »Niemand ist hier eingesperrt. Hast du mich verstanden? Niemand ist eingesperrt.«
»Dann hast du sie rausgelassen. Mir ist schon aufgefallen, dass du das Gitter am Fenster abmontiert hast.«
Anstatt ihr eine Antwort zu geben, griff er nach dem Waschmittel und kippte es über die Kleider. Er maß
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