12 - Wer die Wahrheit sucht
verlangte sie. »Wenn du es nicht tust, wird sie es tun.«
Er sagte: »Seit ihrem sechzehnten Geburtstag, Ruth.«
Es war schlimmer, als sie gedacht hatte, denn sie wusste, was das hieß: dass ihr Bruder dieses Mädchen zu sich ins Bett genommen hatte, sobald er vom Gesetz nichts mehr zu fürchten gehabt hatte. Daraus konnte man schließen, dass er schon lange ein Auge auf sie geworfen hatte. Er hatte alles geplant und ihre Verführung sorgfältig inszeniert. Mein Gott, dachte sie, wenn Henry das erfährt... wenn er sich das alles überlegt, wie ich es eben getan habe...
»Aber was ist mit Anaïs?«, fragte sie benommen.
»Was soll mit Anaïs sein?«
»Von ihr hast du das Gleiche gesagt. Weißt du nicht mehr? Du hast gesagt: Sie ist die Richtige. Und damals hast du es auch geglaubt. Wie kommst du dann auf die Idee -«
»Das hier ist etwas völlig anderes.«
»Guy, es ist jedes Mal etwas völlig anderes. In deiner Einbildung ist es etwas anderes. Aber es scheint nur so, weil es etwas Neues ist.«
»Du verstehst das nicht. Wie solltest du auch? Wir sind sehr unterschiedliche Wege gegangen.«
»Ich habe jeden Schritt gesehen, den du gegangen bist«, sagte Ruth, »und das hier ist -«
»Etwas Besonderes«, fiel er ihr ins Wort. »Etwas sehr Tiefes, das mich verwandelt hat. Wenn ich so wahnsinnig wäre, mich von ihr zu trennen und wegzuwerfen, was wir besitzen, dann verdiente ich, für immer allein zu bleiben.«
»Aber was ist mit Henry?«
Guy schaute weg.
Er war sich also sehr wohl bewusst, dass er seinen Freund Henry Moullin mit kalter Berechnung benutzt hatte, um an Cynthia heranzukommen. Sie erkannte, dass sein »Lassen wir doch Henry kommen, damit er sich das mal ansieht«, wann immer es in Haus oder Park etwas zu tun gab, für ihn das Mittel gewesen war, um sich an Henrys Tochter heranzumachen. Und so, wie er zweifellos diese Hinterhältigkeit Henry gegenüber einfach wegerklären würde, so würde er fortfahren, zu verklären, was in Wirklichkeit wieder nur Selbsttäuschung bezüglich einer Frau war, die scheinbar sein Herz gewonnen hatte. Oh, er glaubte daran, dass Cynthia Moullin die Richtige war. Aber das hatte er auch bei Margaret geglaubt und danach bei JoAnna und all den Margarets und JoAnnas, die gefolgt waren, bis zu Anaïs Abbott. Er sprach von Heirat mit dieser neuesten Nachfolgerin von Margaret und JoAnna nur deshalb, weil sie achtzehn Jahre alt war und ihn verehrte und das seinem Altmänner-Ego gut tat. Aber nach einer Weile würde sein Blick weiterwandern. Oder ihrer. Egal, was hier geschah, würde andere verletzen und vernichten. Ruth musste etwas unternehmen, um das zu verhindern.
Sie hatte mit Henry gesprochen. Sie hatte sich eingeredet, sie täte es, weil sie nicht zusehen wollte, wie Cynthia das Herz gebrochen wurde, und selbst jetzt noch musste sie an dieser Begründung festhalten. Aus tausend Gründen war die Affäre zwischen ihrem Bruder und dem jungen Mädchen nicht nur in moralischer und sittlicher Hinsicht verwerflich gewesen. Wenn es Guy an der Einsicht und dem Mut fehlte, sie auf behutsame Art zu beenden und dem Mädchen seine Freiheit zu geben, damit sie ein erfülltes und richtiges Leben führen konnte - ein Leben mit Zukunft -, dann musste sie durch ihr Handeln dafür sorgen, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als dies zu tun. Sie hatte sich entschieden, Henry Moullin nur einen Teil der Wahrheit zu sagen: dass Cynthia vielleicht beginne, Guy ein wenig zu gern zu haben, dass sie ein bisschen zu oft in Le Reposoir sei, anstatt sich für ihre Freunde und die Schule zu interessieren, dass sie immer irgendwelche Vorwände finde, um in Le Reposoir vorbeizukommen und ihre Tante zu besuchen, dass sie in ihrer Freizeit viel zu viel an Guy klebe. Ruth nannte es Jungmädchenschwärmerei und meinte, Henry solle vielleicht einmal mit seiner Tochter sprechen...
Das hatte er getan. Cynthia hatte mit einer Offenheit reagiert, die Ruth nicht erwartet hatte. Es sei keine Jungmädchenschwärmerei, erklärte sie ihrem Vater ruhig. Er brauche sich keine Sorgen zu machen. Sie hätten vor, zu heiraten, sie seien ein Paar, sie und der Freund ihres Vaters, und sie seien das schon seit beinahe zwei Jahren.
Henry war nach Le Reposoir gestürmt und hatte Guy am Rand des tropischen Gartens beim Entenfüttern angetroffen. Stephen Abbott war auch da, aber das interessierte Henry überhaupt nicht. Er brüllte: »Du dreckiges Stück Scheiße!«, und rannte auf Guy zu. »Ich bring dich um, du
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