12 - Wer die Wahrheit sucht
gesagt, ich kann nach Alderney kommen. Sie will, dass ich komme, und ich fahr auch.«
»Sind Sie Cynthia Moullin?«, fragte Deborah.
Das Mädchen hob erstaunt den Kopf. Sie blickte von China zu Deborah, als versuchte sie dahinter zu kommen, wer sie waren. Sie schaute an ihnen vorbei zur Einfahrt, vielleicht um zu sehen, ob sie in Begleitung waren. Als sie sah, dass niemand sonst da war, sank sie wieder in sich zusammen, und über ihr Gesicht zog sich erneut der Ausdruck trostloser Verzweiflung.
»Ich dachte, Sie wären mein Vater«, sagte sie tonlos und ließ den Kopf wieder auf den Rand des Brunnens sinken. »Ich wollte, ich wäre tot.« Sie umklammerte die Wände des kleinen Brunnens, als könnte sie so ihrem Körper ihren Willen aufzwingen.
»Das Gefühl kenne ich«, sagte China.
»Das Gefühl kennt niemand«, widersprach Cynthia. »Niemand kennt es, weil es meines ist. Er ist froh. Er sagt: ›Komm, rapple dich auf. Passiert ist passiert, und vorbei ist vorbei.‹ Aber so ist es nicht. Das glaubt nur er, dass es vorbei ist. Das geht nie vorbei. Jedenfalls nicht für mich. Ich vergesse das nie.«
»Meinen Sie das zwischen Ihnen und Mr. Brouard? Dass das vorbei ist?«, fragte Deborah. »Weil er tot ist?«
Als das Mädchen den Namen Brouard hörte, hob sie wieder den Kopf. »Wer sind Sie?«
Deborah erklärte es ihr. Auf der Fahrt vom Grand Havre hierher hatte China ihr gesagt, dass sie nie auch nur andeutungsweise von einer Geschichte zwischen Guy Brouard und einer Frau namens Cynthia Moullin gehört hatte, solange sie in Le Reposoir gewesen war. Ihres Wissens war Anaïs Abbott Guy Brouards einzige Geliebte gewesen. »Und sie haben sich auch genauso verhalten«, hatte China erzählt. Damit war klar, dass das junge Mädchen schon vor der Ankunft der Rivers in Guernsey keine Rolle mehr gespielt hatte. Blieb die Frage, warum und auf wessen Betreiben hin.
Cynthias Lippen begannen zu beben und verzogen sich zum Weinen, als Deborah sich und China vorstellte und den Grund ihres Besuchs darlegte. Als alles erklärt war, liefen ihr die ersten Tränen die Wangen hinunter und sie tat nichts, um sie zurückzuhalten. Sie tropften auf ihr graues Sweatshirt und zeichneten es mit kleinen Tupfen ihres Schmerzes.
»Ich wollte es«, sagte sie schluchzend. »Er wollte es auch. Er hat es nie gesagt, und ich auch nicht, aber wir wussten es beide. Er hat mich damals, bevor wir es getan haben, nur angesehen, und ich wusste, dass sich alles zwischen uns verändert hat. Ich konnte es in seinem Gesicht sehen - was es ihm bedeuten würde und so -, und da hab ich gesagt: ›Benutze nichts‹. Er hat gelächelt, dieses Lächeln, das bedeutete, dass er wusste, was ich dachte, und es war okay. Es hätte alles einfacher gemacht. Denn dann wäre es logisch gewesen, dass wir heiraten.«
Deborah sah China an. China formulierte lautlos: Wow!
Deborah sagte zu Cynthia: »Sie waren mit Mr. Brouard verlobt?«
»Wir hätten uns verlobt«, erwiderte sie. »Und jetzt... Ach, Guy. Guy.« Sie weinte ohne Scham wie ein kleines Mädchen. »Nichts ist geblieben. Wenn ich ein Kind bekommen hätte, wäre mir wenigstens etwas geblieben. Aber jetzt ist er wirklich und wahrhaftig tot, und ich kann es nicht ertragen. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. O Gott, wie ich ihn hasse. Dauernd sagt er: ›Komm schon, reiß dich zusammen. Das Leben geht weiter. Du bist frei, du kannst weiterleben wie zuvor.‹ Und dabei tut er so, als hätte er nicht darum gebetet, dass es so kommt, als hätte er keine Ahnung, dass ich davongelaufen wäre und mich versteckt hätte, bis das Baby auf die Welt gekommen und es für ihn zu spät gewesen wäre, irgendwas zu tun, um es zu verhindern. Er erzählt mir, wie mir das mein Leben verpfuscht hätte, dabei ist es doch sowieso verpfuscht. Und darüber ist er froh. Ja, froh. Richtig froh!« Sie schlang erneut die Arme um den Brunnen und ließ ihre Tränen auf seinen Muschelrand tropfen.
Sie hatten die Antwort auf ihre Frage, dachte Deborah.
Es gab kaum den Hauch eines Zweifels, dass zwischen Cynthia Moullin und Guy Brouard eine Liebesbeziehung bestanden hatte. Und dieser er, den sie hasste, musste ihr Vater sein. Deborah konnte sich nicht vorstellen, wer sonst so reagiert haben sollte, die sie erzählt hatte.
Sie sagte: »Cynthia, sollen wir Ihnen nicht ins Haus helfen? Es ist kalt hier draußen, und Sie haben nur das Sweatshirt an...«
»Nein! Da rein geh ich nie wieder! Ich bleib hier draußen, bis ich sterbe. Ich will es
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