12 - Wer die Wahrheit sucht
so.«
»Ich glaube nicht, dass Ihr Vater das zulassen wird.«
»Er will es genauso wie ich«, sagte sie. »›Gib das Rad her‹, hat er zu mir gesagt. ›Du verdienst seinen Schutz nicht.‹ Als wüsste ich nicht, dass er mich damit verletzen will. Als wüsste ich nicht, was er meint. Er sagt: ›Du bist nicht mehr meine Tochter‹, und ich soll das hören, ohne dass er es ausspricht. Aber es ist mir gleichgültig, verstehen Sie? Es interessiert mich nicht.«
Deborah sah China einigermaßen verwirrt an. China deutete mit einem Schulterzucken ihre eigenen Schwierigkeiten an, zu verstehen, worum es ging. Diese Wasser waren zu tief, um nur darin herumzuplanschen. Sie mussten irgendwo einen Halt finden.
»Ich hatte es sowieso schon Guy geschenkt«, fuhr Cynthia fort. »Schon Monate vorher. Ich habe ihm gesagt, er soll es immer bei sich tragen. Es war albern, ich weiß. Es war ja nur ein blöder Stein. Aber ich habe ihm gesagt, es würde ihn beschützen, und ich denke, er hat geglaubt... weil ich ihm gesagt habe... ich habe ihm gesagt...« Sie begann erneut zu schluchzen. »Aber es hat ihn nicht beschützt. Es war nur ein blöder, blöder Stein.«
Das Mädchen war eine faszinierende Mischung aus Unschuld, Sinnlichkeit, Naivität und Verletzlichkeit. Deborah konnte sich ihre Anziehungskraft auf einen Mann vorstellen, der sich vielleicht berufen gefühlt hatte, sie in das Leben einzuführen, sie gleichzeitig vor ihm zu schützen und ihr einige seiner Köstlichkeiten zu zeigen. Cynthia Moullin bot so etwas wie eine Full-Service-Beziehung, entschieden eine Versuchung für einen Mann, der zu allen Zeiten den Eindruck der Überlegenheit aufrechterhalten musste. Deborah konnte sich selbst in dem jungen Mädchen erkennen - die junge Frau, die sie vielleicht gewesen wäre, wenn sie nicht auf eigene Faust drei Jahre nach Amerika gegangen wäre.
Diese Erkenntnis veranlasste sie, neben dem Mädchen niederzuknien und ihr sachte die Hand in den Nacken zu legen. »Cynthia«, sagte sie, »es tut mir entsetzlich Leid, was Sie durchmachen müssen. Aber bitte, lassen Sie sich ins Haus bringen. Jetzt wollen Sie sterben, aber das werden Sie nicht immer wollen. Glauben Sie mir. Ich weiß es.«
»Ich auch«, stimmte China ein. »Wirklich, Cynthia. Sie sagt die Wahrheit.«
Die Atmosphäre von schwesterlicher Gemeinschaft, die durch diese Worte erzeugt wurde, schien auf das Mädchen zu wirken. Sie ließ sich auf die Füße helfen, und als sie stand, wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts die Augen und sagte, rührend wie ein Kind: »Ich muss mich schnauzen.«
Deborah erwiderte: »Im Haus ist sicher ein Taschentuch.«
So gelang es ihnen, sie von dem kleinen Wunschbrunnen zur Haustür zu lotsen. Dort blieb sie stocksteif stehen, und einen Moment lang fürchtete Deborah, sie würde nicht hineingehen, aber als Deborah »Hallo?« rief und fragte, ob jemand da sei, und daraufhin niemand antwortete, war Cynthia doch bereit, einzutreten. Drinnen benutzte sie ein Geschirrtuch als Taschentuch, ging ins Wohnzimmer und kuschelte sich in einen alten Polstersessel. Sie legte den Kopf auf die Armlehne und zog von der Rückenlehne eine gestrickte Decke herunter, mit der sie sich zudeckte.
»Er sagte, ich müsste abtreiben.« Sie schien wie betäubt. »Er sagte, er würde mich solange einsperren, bis er wüsste, ob es nötig ist. Ich solle mir bloß nicht einbilden, ich könnte weglaufen und irgendwo heimlich den Bastard von diesem Bastard zur Welt bringen, sagte er. Da hab ich gesagt, es würde kein Bastard werden, weil wir lange vor seiner Geburt heiraten würden, und da ist er ausgerastet. ›Du bleibst hier, bis ich Blut sehe‹, hat er geschrien. ›Und um Brouard werde ich mich schon kümmern.‹«
Cynthia hielt den Blick unverwandt auf die Wand gegenüber gerichtet, an der eine Anzahl Familienfotos hing. Eine große Aufnahme in der Mitte zeigte einen sitzenden Mann - vermutlich ihren Vater -, um den sich drei kleine Mädchen gruppierten. Er wirkte zuverlässig und gutmütig. Die Mädchen sahen ernst aus, so, als hätten sie ein wenig Spaß nötig.
»Was ich wollte, hat ihn gar nicht interessiert«, sagte Cynthia. »Nicht im Geringsten. Und jetzt ist nichts geblieben. Wenn ich wenigstens das Baby hätte...«
»Glauben Sie mir, ich verstehe Sie«, sagte Deborah.
»Wir haben uns geliebt, aber er hat das nicht begriffen. Er hat behauptet, er hätte mich verführt, aber so war es nicht.«
»Nein«, sagte Deborah, »so läuft das
Weitere Kostenlose Bücher