12 - Wer die Wahrheit sucht
stand sie am Herd und kochte Hühnerfond, wobei sie immer wieder das Fett von der kochenden Brühe abschöpfte. Ein neues Suppenrezept lag auf der Arbeitsplatte neben dem Herd. Sie hatte es aus einer Zeitschrift ausgeschnitten, weil sie hoffte, mit einem neuen Gericht Ruths Appetit anzuregen.
Kevin blieb an der Tür stehen und sah ihr zu. Er hatte seinen Schlips gelockert und die Weste aufgeknöpft. Er war für das Schülerkonzert viel zu fein gekleidet, und Valerie spürte erneut einen Stich. Er sah gut aus. Sie hätte mit ihm gehen sollen.
Kevins Blick schweifte zu dem Zettel, den er, mit einem Magneten am Kühlschrank befestigt, zurückgelassen hatte. Valerie sagte: »Tut mir Leid. Ich hab's einfach vergessen. Hat Cherie ihre Sache gut gemacht?«
Er nickte, nahm den Schlips ab, wickelte ihn um seine Hand und legte ihn auf den Küchentisch. Er zog sein Jackett und die Weste aus, nahm sich einen Stuhl und setzte sich.
»Geht's Mary Beth gut?«, erkundigte sich Valerie.
»So gut, wie man erwarten kann. Es ist das erste Weihnachten ohne ihn.«
»Für dich auch.«
»Das ist was anderes.«
»Ja, wahrscheinlich. Aber es ist gut, dass die Mädchen dich haben.«
Ein Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Die Hühnerbrühe blubberte. Der Kies in der Auffahrt knirschte, als ein Auto über ihn rollte. Valerie schaute zum Fenster hinaus und sah einen Streifenwagen zur Straße hinausfahren. Stirnrunzelnd wandte sie sich wieder ihrem Suppentopf zu und warf gehackten Sellerie in die Brühe. Sie fügte noch einen Löffel Salz hinzu und wartete darauf, dass ihr Mann etwas sagen würde.
»Der Wagen war nicht da, als ich in die Stadt fahren wollte«, bemerkte er. »Ich musste Guys Mercedes nehmen.«
»Das hat doch prima gepasst, wo du dich so fein gemacht hattest. Hat es Mary Beth gefallen, in so einem Nobelauto vorzufahren?«
»Ich bin allein gefahren. Es war zu spät, um sie abzuholen. Ich bin nicht mal pünktlich zum Konzert gekommen, weil ich so lange auf dich gewartet habe. Ich war sicher, du wärst nur mal kurz weg, für Ruth was aus der Apotheke holen oder so.«
Noch einmal strich sie mit dem Löffel über die Oberfläche der Brühe, um nicht vorhandenes Fett abzuschöpfen. Ruth mochte keine fette Brühe. Sie brauchte nur die schillernden Augen zu sehen, und schon schob sie den Teller weg. Darum musste Valerie aufpassen. Sie musste der Hühnerbrühe ihre ganze Aufmerksamkeit widmen.
»Cherie war traurig, dass du nicht da warst«, sagte Kevin. »Du hattest zugesagt.«
»Aber Mary Beth war sicher nicht traurig, oder?«
Kevin antwortete nicht.
»Und.«, sagte Valerie so unbefangen sie konnte. »Sind die Fenster in ihrem Haus jetzt gut abgedichtet, Kevin? Keine undichten Stellen mehr?«
»Wo bist du gewesen?«
Sie ging zum Kühlschrank und schaute hinein und überlegte dabei, was sie sagen könnte. Sie tat so, als inspizierte sie die Vorräte, aber ihre Gedanken schwirrten herum wie Fruchtfliegen um überreifes Obst.
Die Stuhlbeine schrammten laut über den Boden, als Kevin aufstand. Er trat an den Kühlschrank und schlug die Tür zu. Valerie ging wieder an den Herd, und er folgte ihr. Als sie nach dem Holzlöffel griff, nahm er ihr den aus der Hand und legte ihn sorgsam auf die Ablage. »Wir müssen endlich miteinander reden.«
»Worüber?«
»Ich glaube, das weißt du.«
Sie dachte nicht daran, das oder irgendetwas anderes zuzugeben. Sie konnte es sich nicht erlauben. Darum lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. Sie tat es, obwohl sie um das schreckliche Risiko wusste, das sie damit einging; das Risiko, das gleiche elende Schicksal zu erleiden, das schon ihre Mutter erlitten hatte und das wie ein Fluch über der Familie hing: vom Ehepartner verlassen zu werden. Ihre Kindheit und ihre Jugend waren von diesem Schicksal überschattet gewesen, und sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand, um dafür zu sorgen, dass sie nicht verlassen werden würde. Ihre Mutter hatte es getroffen. Ihren Bruder hatte es getroffen. Aber sie, das hatte sie sich geschworen, würde es niemals treffen. Wenn wir hart arbeiten und uns bemühen und Opfer bringen und einander lieben, dann haben wir dafür Treue verdient, daran hatte sie fest geglaubt. Und sie hatte Treue bekommen, jahrelang und ohne Fragen. Aber jetzt musste sie den Verlust riskieren, um zu schützen, was des Schutzes am dringendsten bedurfte.
Sie wappnete sich innerlich und sagte: »Dir fehlen die Jungs, nicht? Das ist ein Teil davon. Wir haben
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