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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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wurde beschuldigt, einen Diebstahl -«
    Ruth hob eine Hand, um den Constable zum Schweigen zu bringen. »Ich kann das nur für ein Hirngespinst meiner ehemaligen Schwägerin halten. Sie hat eine rege Fantasie. Wenn hier etwas fehlt, so weiß ich nicht, was es sein sollte. Ich vertraue diesem Jungen und würde ihm jederzeit mein Haus und meinen Besitz anvertrauen.« Und zum Beweis gab sie den Rucksack ungeöffnet an Paul zurück. »Ich bedauere nur die Unannehmlichkeiten, die für alle Beteiligten entstanden sind. Der Tod meines Bruders hat Mrs. Chamberlain sehr erschüttert. Sie ist im Moment nicht fähig, vernünftig zu handeln.«
    Sie glaubte, damit wäre die Sache erledigt, aber sie irrte sich. Paul schob ihr den Rucksack wieder zu, und als sie sagte: »Was ist denn, Paul? Ich verstehe nicht«, öffnete er die Schnallen und entnahm dem Rucksack einen zylindrischen Gegenstand, eine aufgerollte Röhre.
    Ruth sah Paul verständnislos an. Die beiden Polizisten standen auf. Paul drückte Ruth die Rolle in die Hände, und als sie nicht recht wusste, was sie damit anfangen sollte, ergriff er die Initiative und breitete seine Gabe auf ihrem Schoß aus.
    Sie blickte darauf hinunter. Sie sagte: »Oh, mein Gott«, und verstand plötzlich.
    Ihr Blick verschleierte sich, und sie verzieh ihrem Bruder alles: seine Geheimnisse und seine Lügen, die Art und Weise, wie er andere benutzt hatte, den Männlichkeitswahn, den Zwang, jede Frau zu verführen. Sie war wieder das kleine Mädchen, das der ältere Bruder fest bei der Hand hielt. »N'aie pas peur«, hatte er gesagt. »N'aie jamais peur. On rentrera à la maison.«
    Einer der Polizisten sagte etwas, aber Ruth nahm seine Stimme nur undeutlich wahr. Sie verbannte tausend Erinnerungen aus ihren Gedanken, und es gelang ihr, zu sagen: »Paul hat das nicht gestohlen. Er hat es für mich aufbewahrt. Er hatte immer die Absicht, es mir zu geben. Ich nehme an, er sollte es für meinen Geburtstag aufbewahren. Guy hätte gewünscht, dass es sicher aufgehoben wird. Er hat gewusst, dass er sich auf Paul verlassen kann. So wird es gewesen sein.«
    Mehr konnte sie nicht sagen. Sie war von Gefühlen überwältigt und erschüttert von dem, was ihr Bruder getan hatte - von den unvorstellbaren Anstrengungen, die er auf sich genommen hatte -, um sie, ihre Familie und ihr gemeinsames Erbe zu ehren. »Wir haben Ihnen eine Menge Umstände gemacht«, sagte sie leise zu den Polizisten, »dafür bitte ich um Entschuldigung.« Das reichte, um die beiden Männer zum Gehen zu veranlassen.
    Sie blieb mit Paul auf dem Sofa sitzen. Er drängte sich näher an sie heran. Er wies auf das Bauwerk, das der Maler abgebildet hatte, auf die kleinen Arbeiter, die Hand an es legten, auf die entrückt aussehende Frau, die im Vordergrund saß, den Blick auf das voluminöse Buch gesenkt, das auf ihrem Schoß lag. Ihr Gewand umfloss sie in blauen Falten. Ihr Haar wehte, wie von einem leichten Wind erfasst, aus ihrem Gesicht. Sie war noch genauso schön wie damals, als Ruth sie vor mehr als sechzig Jahren das letzte Mal gesehen hatte: unberührt und zeitlos.
    Ruth suchte Pauls Hand und ergriff sie. Jetzt zitterte sie und konnte nicht sprechen. Aber sie konnte handeln, und das tat sie. Sie zog seine Hand an ihre Lippen und stand auf.
    Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. Sie würde ihn mit nach oben nehmen, damit er mit eigenen Augen sehen und auch begreifen konnte, was für ein außergewöhnliches Geschenk er ihr soeben gemacht hatte.
    Valerie fand den Zettel bei ihrer Rückkehr aus La Corbiere. Die Nachricht, in Kevins ordentlicher Handschrift verfasst, bestand aus zwei Wörtern: Cheries Konzert. Die Tatsache, dass er sich so kurz gefasst hatte, verriet seinen Unmut.
    Sie spürte einen feinen Stich. Sie hatte das Weihnachtskonzert in der Schule des kleinen Mädchens ganz vergessen. Eigentlich hatte sie mit ihrem Mann zusammen hingehen wollen, um ihrer sechsjährigen Nichte zu ihrem Mut, sich ganz allein auf die Bühne zu stellen und zu singen, zu applaudieren. Aber in ihrer angstvollen Besessenheit, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, wie weit ihre Schuld am Tod Guy Brouards reichte, hatte sie an nichts anderes mehr gedacht. Es war sogar möglich, dass Kevin sie beim Frühstück an das Konzert erinnert und sie ihn einfach nicht gehört hatte. Sie war zu der Zeit schon beim Planen gewesen: Wie und wann sie zu ihrem Bruder fahren könnte, ohne vermisst zu werden, und was sie ihm sagen würde.
    Als Kevin nach Hause kam,

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