12 - Wer die Wahrheit sucht
beschwert. Ruth berührte es so vorsichtig, als wäre es etwas Heiliges, und sagte: »Guy hat es endlich nach Hause geholt.«
»Was ist es?«, fragte Deborah, die neben Ruth stand und auf das Bild hinunterblickte.
»Die Dame mit dem Buch und der Feder«, sagte Ruth. »Sie hat meinem Großvater gehört, und vorher seinem Vater und wiederum dessen Vater und sofort bis weit in die Vergangenheit. Guy sollte das Bild bekommen. Und ich vermute, er hat das ganze Geld ausgegeben, um sie zu finden. Etwas anderes ist nicht...« Ihre Stimme wurde brüchig, und als St. James den Kopf hob, sah er, dass die Augen hinter den runden Brillengläsern feucht geworden waren. »Das ist alles, was wir jetzt noch von ihnen haben.«
Sie nahm die Brille ab, und während sie sich die Augen mit dem Ärmel ihres dicken Pullover abwischte, trat sie zu einem Tisch, der zwischen zwei Sessel an einem Ende des Zimmers stand. Dort ergriff sie eine Fotografie und brachte sie ihnen. »Hier ist es«, sagte sie. »Sie können es auf dem Foto erkennen. Maman hat es uns am Abend unserer Abreise gegeben, weil alle darauf sind. Da: Grandpère, Grandmère, Tante Esther, Tante Becca, ihre Männer, sie waren gerade frisch verheiratet, unsere Eltern und wir. Sie sagte: ›Gardez-la...‹«
Ruth schien sich bewusst zu werden, dass sie in eine andere Zeit und an einen anderen Ort abgeschweift war. Sie kehrte zum Englischen zurück. »Verzeihen Sie. Unsere Mutter sagte: ›behaltet es, bis wir uns wiedersehen, damit ihr uns erkennt, wenn ihr uns seht.‹ Wir wussten nicht, dass es niemals dazu kommen würde. Und schauen Sie. Da, auf dem Foto, da ist sie. Über der Anrichte. Die Dame mit dem Buch und der Feder. Ja, dort hing das Bild. Sehen Sie die winzigen Gestalten hinter ihr in der Ferne... alle eifrig mit dem Bau der Kirche beschäftigt. Irgendeine riesige gotische Kathedrale, deren Bau hundert Jahre dauerte, und da sitzt sie, so... so heiter, als wüsste sie etwas über diese Kirche, was keiner von uns je erfahren wird.« Ruth lächelte zärtlich zu dem Gemälde hinunter. »Très eher frère«, murmelte sie. Tu n'as jamais oublié.«
St. James war, während Ruth gesprochen hatte, zu Deborah getreten, um sich ebenfalls das Foto anzusehen. Ja, das Gemälde, das vor ihnen auf dem Schreibtisch lag, war dasselbe wie das auf dem Foto. Es war das Foto, das ihm bei seinem letzten Besuch in diesem Zimmer aufgefallen war. Eine Großfamilie zum Passahfest um einen Tisch versammelt. Alle lächelten fröhlich in die Kamera, in Einklang mit einer Welt, die sie bald vernichten sollte.
»Was ist aus dem Gemälde geworden?«
»Das haben wir nie erfahren«, antwortete Ruth. »Wir konnten nur vermuten. Nach dem Krieg haben wir gewartet. Eine Zeit lang glaubten wir, unsere Eltern würden kommen und uns holen. Wir wussten noch nichts. Wir wussten eine ganze Weile nichts und hofften weiter... Nun ja, so sind Kinder, nicht wahr? Wir haben es erst später erfahren.«
»Dass sie umgekommen waren«, sagte Deborah leise.
»Dass sie umgekommen waren«, bestätigte Ruth. »Sie waren zu lange in Paris geblieben. Sie flohen in den Süden, weil sie glaubten, dort sicher zu sein. Danach haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Sie waren nach Lavaurette gegangen. Aber vor den Vichy-Leuten gab es nirgends Schutz. Sie verrieten die Juden, wenn es von ihnen verlangt wurde. Im Grunde waren sie schlimmer als die Nazis, denn die Juden waren ja auch Franzosen, sie gehörten also zu ihren eigenen Leuten.«
Sie griff nach der Fotografie, die St. James noch in der Hand hielt, und blickte auf sie hinunter, als sie weitersprach. »Bei Kriegsende war Guy zwölf, ich war neun Jahre alt. Es dauerte Jahre, ehe er nach Frankreich reisen konnte, um herauszufinden, was aus unserer Familie geworden war. Wir wussten aus ihrem letzten Brief, dass sie alles außer den Kleidern, die sie in je einem Koffer unterbringen konnten, zurückgelassen hatten. Die Dame mit dem Buch und der Feder blieb also zusammen mit dem übrigen Eigentum der Familie in der Obhut eines Nachbarn, Didier Bombard. Er erzählte Guy, die Nazis hätten es als jüdisches Eigentum beschlagnahmt. Aber er kann natürlich gelogen haben. Das war uns klar.«
»Wie, um alles in der Welt, hat Ihr Bruder das Gemälde wiedergefunden?«, fragte Deborah. »Nach so langer Zeit.«
»Mein Bruder war ein sehr entschlossener Mann. Er wird so viele Leute engagiert haben, wie notwendig waren, zuerst für die Suche und dann für den Kauf.«
»International
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