12 - Wer die Wahrheit sucht
Couchtisch und Familienfotos auf dem Sims einer Kaminattrappe, in der ein elektrisches Heizgerät glomm. Auch Arabellas Bild war unter den Fotos. Es zeigte sie im Talar der Hochschulabsolventin. Daher Franks Vermutung bezüglich ihres Alters.
Sie wartete höflich auf seine Antwort. Zuvor hatte sie diskret ein in Leder gebundenes Album auf den Couchtisch gelegt, zweifellos mit Fotografien der Särge, die zur Auswahl standen. Sie hielt einen Spiralblock auf ihrem Schoß, aber sie griff nicht zu dem Schreiber, den sie akkurat quer über den Block gelegt hatte, als sie sich zu ihm aufs Sofa gesetzt hatte. Sie war von Kopf bis Fuß die professionelle junge Karrierefrau und hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem salbungsvollen Trauerkloß, die Frank erwartet hatte.
»Wir können die Trauerfeier auch hier in unserer Kapelle abhalten, wenn Sie das vorziehen«, sagte sie in teilnehmendem Ton. »Manche Leute gehen nicht in die Kirche. Sie bevorzugen eine Feier neutraler Art.«
»Nein«, sagte Frank endlich.
»Sie wollen die Feier also in einer Kirche abhalten? Darf ich mir den Namen der Kirche notieren? Und den des Geistlichen auch?«
»Keine Feier«, sagte Frank. »Keine Beerdigung. Die würde er nicht wollen. Ich möchte, dass er...« Frank brach ab. Ich möchte war nicht die angebrachte Formulierung. »Er wollte eingeäschert werden. Das machen Sie doch auch, nicht wahr?«
»O ja, selbstverständlich«, versicherte Arabella. »Wir erledigen alle Formalitäten und bringen den Leichnam zum Staatlichen Krematorium. Sie brauchen nur die Urne auszusuchen. Warten Sie, dann zeige ich Ihnen...«
Sie beugte sich vor, und er fing den Duft ihres Parfüms auf, einen angenehmen Duft, der wahrscheinlich ein Trost war für all jene, die Trost brauchten. Selbst bei ihm, der ihr Mitgefühl nicht erwartete, weckte der Duft Erinnerungen daran, wie seine Mutter ihn an ihrer Brust gehalten hatte. Woher wussten die Parfümhersteller, welches Aroma diese blitzartige Rückkehr in die Vergangenheit bewerkstelligen würde, fragte er sich.
»Es gibt da verschiedene Modelle«, fuhr Arabella fort. »Sie sollten sich bei Ihrer Wahl vielleicht danach richten, was sie mit der Asche tun wollen. Manchen Menschen ist es ein Trost, sie zu behalten, andere -«
»Keine Urne«, unterbrach Frank. »Ich nehme die Asche so, wie sie ist. In einem Karton. Oder einem Beutel. Je nachdem.«
»Oh. Ja, natürlich.« Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert. Sie wusste gut genug, dass ein Kommentar darüber, wie die trauernden Hinterbliebenen mit den sterblichen Überresten des oder der Verstorbenen verfuhren, ihr nicht zukam. Franks Entscheidung war für die Firma Markham & Swift nicht so profitabel, wie sie das wahrscheinlich gern gehabt hätte, aber das war nicht Franks Problem.
Die Vorkehrungen waren schnell und ohne große Umstände getroffen. Sehr bald schon stieg Frank wieder in seinen Peugeot und fuhr über die Brock Road zum Hafen von St. Sampson hinauf.
Die ganze Geschichte war einfacher gewesen, als er gedacht hatte. Zuerst war er aus dem Wohnhaus in die zwei Lagerhäuser nebenan gegangen, um nach den Beständen zu sehen und für die Nacht abzuschließen. Im Haus zurück, war er zu seinem Vater getreten, der reglos am Fuß der Treppe lag. »Dad! O Gott! Ich habe dir doch gesagt, du sollst nie allein die Treppe...«, hatte er gerufen und sich über ihn gebeugt. Der Atem seines Vaters war flach, kaum noch wahrnehmbar. Frank ging auf und ab und sah immer wieder auf die Uhr. Nach zehn Minuten ging er ans Telefon und rief den Rettungsdienst an. Dann wartete er.
Graham Ouseley starb, noch ehe der Rettungswagen in Moulin des Niaux eintraf. Frank weinte um seinen Vater und um sich selbst und um das, was sie verloren hatten. So fanden ihn die Sanitäter: weinend wie ein Kind, den Kopf seines Vaters in den Schoß gebettet. Ein Bluterguss an der Stirn zeigte, wo er auf der Treppe aufgeschlagen war.
Grahams Arzt war rasch zur Stelle und klopfte Frank mit schwerer Hand auf die Schulter. Es sei ohne Zweifel ganz schnell gegangen, sagte Dr. Langlois. Er habe wahrscheinlich beim Treppensteigen einen Herzinfarkt erlitten. Die Anstrengung sei zu groß gewesen. Aber wenn man sehe, wie relativ unverletzt das Gesicht sei... Es spreche alles dafür, dass er schon bewusstlos gewesen sei, als er auf die Treppe aufgeschlagen war, und wenig später tot, praktisch ohne etwas gemerkt zu haben.
»Ich war nur mal drüben, um für die Nacht abzusperren«, erklärte Frank.
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