12 - Wer die Wahrheit sucht
Paul, nachdem er von der Mauer gesprungen war, diesen Weg einschlug. Vor dem Erdhügel bog er nach rechts ab, um ihn zu umrunden. Sie lief ihm eilig nach.
Sie fragte sich, wo man in so einem Haufen Erde ein Gemälde verstecken wollte, aber da bemerkte sie die sorgfältig angeordneten Steine rund um die Basis des Hügels und erkannte, dass dies keine natürliche Bodenerhebung war, sondern ein prähistorisches Bauwerk.
Ein kurzes Stück auf dem Trampelpfad um den Hügel herum fand sie Paul Fielder vor einer verwitterten Eichentür, wo er sich an einem Zahlenschloss zu schaffen machte. Er musste sie gehört haben, denn er stellte sich so, dass seine Schulter ihr den Blick auf die Zahlenkombination des Schlosses versperrte. Mit einem Klicken sprang das Schloss auf, er nahm es ab und steckte es ein, während er gleichzeitig mit dem Fuß die schiefe Tür aufstieß. Die Öffnung, die sich zum Inneren des Hügels auftat, war nur knapp einen Meter hoch. Paul ging in die Knie, rutschte hinein und war rasch in der Dunkelheit verschwunden.
Jetzt gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie kehrte um und berichtete Simon, wie sich das für eine brave Frau gehörte, oder sie folgte dem Jungen. Deborah tat Letzteres.
Hinter der Tür umfing sie ein beengend schmaler, muffiger Gang, weniger als anderthalb Meter von steinernem Boden zu steinerner Decke hoch. Aber nach ungefähr sechs Metern wurde die Decke höher, und der Gang weitete sich zu einer zentralen Kammer, die vom eindringenden Tageslicht dämmrig erleuchtet war. Deborah richtete sich auf und zwinkerte ein paar Mal, und als ihre Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich in einer großen, aus Granitblöcken erbauten Kammer befand. Auf einer Seite erhob sich wie ein steinerner Wächter ein aufrecht stehender Block, in dessen Oberfläche man mit einiger Fantasie beinahe noch die uralte, in den Stein geritzte Darstellung eines Kriegers erkennen konnte, der mit erhobener Waffe darauf wartete, feindliche Eindringlinge zurückzuschlagen. Ein weiterer Granitblock, der sich etwa zehn Zentimeter über den Boden erhob, schien als eine Art Altar zu dienen. Nicht weit von ihm stand eine Kerze, die aber nicht angezündet war. Der Junge war nirgends zu sehen.
Ein Gefühl der Beklemmung befiel Deborah. Sie stellte sich vor, sie wäre in diesem Steingrab eingesperrt, und kein Mensch wüsste davon. Sie verfluchte sich dafür, Paul Fielder so unbesonnen gefolgt zu sein, aber dann redete sie sich gut zu, um ihre Nerven zu beruhigen, und rief laut Pauls Namen. Sie hörte ein Kratzen, als würde ein Streichholz angerissen. Gleich darauf leuchtete hinter einer Spalte in der unförmigen Steinmauer zu ihrer Rechten ein Licht auf. Dort war offensichtlich eine zweite Kammer. Deborah machte sich auf den Weg zu ihr.
Die Öffnung, die sie entdeckte, war nicht mehr als fünfundzwanzig Zentimeter breit. Die feuchte Kühle der äußeren Steinmauer streifte sie, als sie sich in die zweite Kammer hineinzwängte, die mit reichlich Kerzen und einem kleinen Feldbett ausgestattet war. Am Kopfende des Betts lag ein Kissen, an seinem Fußende stand ein geschnitzter Holzkasten, dazwischen saß Paul Fielder mit einem Heftchen Streichhölzer in der einen Hand und einer brennenden Kerze in der anderen. Er versuchte, die Kerze in einer von zwei Steinen gebildeten Nische in der äußeren Mauer aufzustellen, und als er das geschafft hatte, zündete er eine zweite an und befestigte sie in einer Wachspfütze auf dem Fußboden.
»Ist das dein Versteck?«, fragte Deborah leise. »Hast du hier das Bild gefunden, Paul?«
Sie hielt es für unwahrscheinlich. Ihr schien es eher ein Versteck ganz anderer Art zu sein, und sie ahnte auch schon, welcher Art. Das Feldbett zeugte davon, und als Deborah zu dem Holzkasten auf dem Fußende des Betts griff und seinen Deckel aufklappte, sah sie ihre Ahnung bestätigt.
Der Kasten enthielt eine Auswahl an Kondomen: mit Noppen und glatt, farbig und mit Geschmack. Es waren genug, um die Vermutung zu rechtfertigen, dass sich hier jemand regelmäßig zu Liebesspielen getroffen hatte. Es war ja auch der ideale Platz dafür: versteckt, wahrscheinlich vergessen und angemessen extravagant für ein romantisches junges Mädchen. Hierher also hatte Guy Brouard Cynthia Moullin gebracht. Es fragte sich nur, warum er offenbar auch Paul Fielder hierher gebracht hatte.
Deborah betrachtete den Jungen. Im weichen Kerzenlicht sah sie, wie engelhaft dieses zarthäutige
Weitere Kostenlose Bücher