12 - Wer die Wahrheit sucht
Er spürte, wie die Tränen auf seinen Wangen trockneten und in der aufgesprungenen Haut um seine Augen brannten. »Als ich zurückkam... Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass er nie versuchen soll.«
»Die Alten sind eigensinnig«, sagte Langlois. »Ich erlebe das immer wieder. Sie wissen genau, dass sie nicht mehr so gut auf den Beinen sind, aber sie wollen auf keinen Fall jemandem zur Last fallen und hassen es, um etwas zu bitten.« Er drückte Franks Schulter. »Sie hätten nichts ändern können, Frank.«
Er war geblieben, während die Sanitäter die Trage hereingebracht hatten, und er war immer noch da, als Graham Ouseley hinausgetragen wurde. Frank hatte sich genötigt gefühlt, ihm eine Tasse Tee anzubieten, und als der Arzt darauf in vertraulichem Ton sagte: »Ein Whisky wäre mir lieber«, hatte er ihm zwei Fingerbreit Oban Single Malt eingeschenkt und ihm dabei zugesehen, wie er den Whisky mit Genuss getrunken hatte.
Bevor er ging, sagte Langlois: »Wenn ein Vater oder eine Mutter so plötzlich stirbt, ist das ein Schock, auch wenn wir uns noch so gut darauf vorbereitet haben. Aber er war - wie alt? Neunzig?«
»Zweiundneunzig.«
»Zweiundneunzig. Er war sicher bereit. Das sind sie in diesem Alter immer, wissen Sie. Gerade diese Generation. Sie mussten ja damals, vor fünfzig Jahren, jederzeit bereit sein. Er betrachtete wahrscheinlich jeden Tag, den er nach neunzehnhundertvierzig erlebte, als Gottesgeschenk.«
Frank wünschte verzweifelt, der Mann würde endlich gehen, aber Langlois redete unverdrossen weiter und sagte all die Dinge, die er am wenigsten hören wollte: Dass es Männer von Graham Ouseleys Format heute nicht mehr gebe, dass Frank sich glücklich preisen solle, einen solchen Vater gehabt und so viele Jahre - bis in sein eigenes Alter hinein! - mit ihm erlebt zu haben; dass Graham stolz darauf gewesen sei, einen Sohn zu haben, mit dem er bis an sein Lebensende in Frieden und Harmonie habe zusammenleben können, dass Franks Liebe und Zuneigung ihm ungeheuer viel bedeutet habe...
»Erinnern Sie sich an das alles«, riet Langlois feierlich. Dann war er endlich gegangen, und Frank war nach oben gelaufen in sein Zimmer, wo er sich auf sein Bett gesetzt und dann irgendwann hingelegt hatte, um auf den Beginn der Zukunft zu warten.
Jetzt am South Quay stellte er fest, dass er vorerst in St. Sampson festsaß. Hinter ihm stauten sich die aus dem Einkaufsviertel rund um The Bridge kommenden Autos, und vor ihm war bis zur Bulwer Avenue alles hoffnungslos verstopft, weil dort an der Kreuzung ein Sattelschlepper die Kurve zum South Quay offenbar etwas zu scharf genommen und sich quer gestellt hatte. Fahrzeuge versuchten, sich irgendwie an ihm vorbeizuquetschen, es gab keine Möglichkeit, zu wenden, und viel zu viele Gaffer, die meinten, gute Ratschläge geben zu müssen. Als Frank das sah, zog er den Peugeot nach links, scherte aus der Schlange aus und fuhr an den Rand der Straße am Kai, wo er mit Blick aufs Wasser anhielt.
Er stieg aus dem Wagen. Um diese Zeit lagen kaum Boote in dem von Granitmauern umschlossenen Hafenbecken, und das eisige Dezemberwasser, das gegen die Steine schlug, war frei von den Ölschlieren, die im Hochsommer sehr zum Zorn der einheimischen Fischer von den Booten achtloser Wassersportler hinterlassen wurden. Jenseits des Wassers, am Nordende von The Bridge, erschallte von der Schiffswerft der gewohnte Lärm, eine Mischung aus Hämmern, Zischen, Schleifen und Fluchen, während Schiffe für den Winter aus dem Wasser gehievt wurden, um für die nächste Saison überholt zu werden. Für Frank, der alle diese Geräusche kannte und jedes genau zuordnen konnte, bekamen sie an diesem Tag ganz andere Bedeutung: das Hämmern wurde zum knallenden Gleichschritt schwerer Stiefel auf Kopfsteinpflaster, das Schleifen zum Knirschen des Metalls, wenn an einem Gewehr der Hahn gespannt wurde, das Fluchen zum - in jeder Sprache verständlichen - Feuerbefehl.
Er konnte die Geschichten nicht loswerden, nicht einmal jetzt, wo er es unbedingt wollte. Dreiundfünfzig Jahre lang hatte er sie gehört, immer wieder, ohne dass sie sich abgenutzt hatten, ohne dass sie ihm je unwillkommen gewesen waren - bis zu diesem Moment. Aber immer noch drängten sie sich auf, ganz gleich, ob er es wollte oder nicht: 28. Juni 1940, 18 Uhr 55. Das gleichmäßige tiefe Brummen näher kommender Flugzeuge: die wachsende Angst und Verwirrung all derer, die sich im Hafen von St. Peter Port zur Abfahrt des Postdampfers
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