12 - Wer die Wahrheit sucht
doch gar nicht«, protestierte Deborah.
»Nein? Dann sag mir doch mal, wie es war. Erzähl mir, dass es nicht anders war als meine Situation mit Matt.« China griff nach ihrem Tee, aber sie trank nicht. »Das kannst du nicht, stimmt's?«, sagte sie. »Weil deine Situation eine ganz andere war.«
»Männer sind nicht -«
»Ich rede nicht von Männern. Ich rede vom Leben. Was für ein Leben ich bis jetzt gehabt habe. Und was für eines du bis jetzt gehabt hast.«
»Du siehst nur das Äußere«, sagte Deborah. »Du vergleichst es - den äußeren Anschein - mit dem, was sich bei dir innen abspielt. Aber das geht nicht. China, ich hatte nicht mal eine Mutter. Das weißt du. Ich bin praktisch bei fremden Leuten aufgewachsen. Ich hatte als Kind und als Jugendliche Angst vor meinem eigenen Schatten, ich wurde in der Schule wegen meiner roten Haare und meiner Sommersprossen gehänselt, ich war zu schüchtern, um irgendjemanden um etwas zu bitten. Sogar meinen Vater. Ich wäre vor Dankbarkeit fast in die Knie gegangen, wenn mir mal jemand den Kopf getätschelt hat wie einem Hund. Meine einzigen Freunde, bis ich vierzehn war, waren Bücher und ein alter Fotoapparat. Ich wohnte im Haus anderer Leute, bei denen mein Vater Hausangestellter war, und ich dachte immer, warum kann er nicht was Richtiges sein? Arzt oder Zahnarzt oder Banker oder so was? Warum geht er nicht jeden Tag ganz normal zur Arbeit wie die Väter von anderen Kindern? Warum -«
»Herrgott noch mal! Mein Vater war im Gefängnis«, schrie China. »Und da ist er jetzt wieder. Er handelt mit Drogen, Deborah. Hast du mich gehört? Er ist ein beschissener Dealer. Und meine Mutter... Wie würde es dir gefallen, Miss Mammutbaum zur Mutter zu haben? Du musst unbedingt die gepunktete Eule und das dreibeinige Eichhörnchen retten. Du musst verhindern, dass ein Damm hochgezogen wird, eine Straße gebaut oder ein Ölschacht gebohrt wird, aber lass dir ja nie - nie - einfallen, an einen Geburtstag deiner Kinder zu denken, für die Schule ein Pausebrot zu machen, darauf zu achten, dass deine Kinder ein anständiges Paar Schuhe haben. Und tauche, um Himmels willen, nicht zum Sportfest oder zum Pfadfindertreffen oder zum Elternsprechtag oder sonst was auf, denn wenn tatsächlich der Löwenzahn ausstirbt, der auf der Liste der gefährdeten Pflanzen steht, könnte das ja das ganze beschissene Ökosystem aus den Fugen bringen. Vergleiche also bitte nicht dein armes, armes Leben auf irgendeinem hochherrschaftlichen Besitz - als zart besaitetes Töchterchen eines Hausangestellten - mit meinem Leben.«
Deborah holte zitternd Luft. Es schien nichts mehr zu sagen zu geben.
China trank von ihrem Tee, das Gesicht abgewandt.
Deborah wollte sagen, dass kein Mensch auf der Welt sich sein Schicksal aussuchen könne, dass es nicht darauf ankomme, wie dieses Schicksal ausfalle, sondern wie man damit umgehe. Aber sie sagte es nicht. Und sie sagte auch nicht, dass sie vor langer Zeit, mit dem Tod ihrer Mutter, erfahren hatte, dass aus Schlimmem sehr wohl Gutes entstehen konnte. Es hätte hochmütig und selbstgefällig geklungen, und es hätte außerdem das Gespräch unweigerlich auf ihre Ehe mit Simon gelenkt, die nie zustande gekommen wäre, hätten seine Eltern es nicht für notwendig gehalten, ihren todtraurigen Vater zu zwingen, Southampton zu verlassen. Hätten sie nicht Joseph Cotter mit der Renovierung des heruntergekommenen Stadthauses der Familie in Chelsea beauftragt, hätte sie nie den Mann kennen und lieben gelernt, den sie geheiratet hatte und mit dem sie heute ihr Leben teilte. Aber das China auseinander setzen zu wollen, hatte im Moment keinen Sinn. Sie stand viel zu sehr unter Druck.
Deborah wusste, dass sie über Kenntnisse verfügte, die China, hätte sie diese Dinge erfahren, einen Teil ihrer Sorgen hätten nehmen können, Informationen über den Dolmen, das Kombinationsschloss an seiner Tür, das Gemälde in der Steinkammer, den Zustand der Versandröhre, in der das Gemälde von Cherokee River unwissentlich nach Großbritannien und weiter nach Guernsey geschmuggelt worden war, und was das alles vermuten ließ. Aber sie wusste auch, dass sie es ihrem Mann schuldete, diese Informationen für sich zu behalten. Darum sagte sie stattdessen: »Ich weiß, dass du Angst hast, China. Aber er wird da schon wieder herauskommen. Du musst nur ganz fest daran glauben.«
China wandte sich noch mehr ab. Deborah sah, wie sie krampfhaft schluckte. »Wir waren doch schon in dem Moment
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