Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
und sich auf ihren Atem konzentriert. Sie hatte die Ängste, die sie geplagt hatten, abziehen lassen. Eine halbe Stunde lang war es ihr gelungen, den Schmerz loszulassen.
    Es war dunkel geworden, als sie von ihrem Stuhl aufstand. Stille erfüllte das Haus. Die Geräusche geschwisterlicher Gemeinschaft, die so lange ihr Leben begleitet hatten, waren mit dem Tod ihres Bruders verstummt und hatten eine Leere hinterlassen, in der sie sich vorkam wie ein Geschöpf, das unerwartet in den Weltraum geschleudert worden ist.
    So würde es bleiben bis zu ihrem eigenen Tod. Sie konnte nur wünschen, dass er bald kommen würde. Solange Gäste im Haus gewesen waren und sie sich um die Vorbereitungen der Beerdigung hatte kümmern müssen, hatte sie sich recht gut gehalten. Doch ihre Einsamkeit erlaubte ihr jetzt, sich von dem zu erholen, was sie durchgemacht hatte. Und loszulassen.
    Niemand mehr, dachte sie, für den ich die Gesunde spielen muss. Guy war tot, und Valerie wusste Bescheid, obwohl Ruth es ihr nie gesagt hatte. Aber das war in Ordnung, denn Valerie hatte von Anfang an den Mund gehalten. Ruth hatte nicht davon gesprochen, also hatte auch Valerie es nicht erwähnt. Mehr konnte man von einer Frau, die sich ständig in der Nähe aufhielt, nicht verlangen.
    Ruth nahm die Flasche aus ihrer Kommode und schüttete zwei Tabletten in ihre Hand. Sie schluckte sie mit Wasser aus der Karaffe neben ihrem Bett. Sie würden sie schläfrig machen, aber es war ja niemand da, für den sie munter sein musste. Sie konnte beim Essen vor sich hin dösen, wenn sie wollte. Sie konnte beim Fernsehen einschlafen. Sie konnte, wenn sie das wollte, jetzt gleich, hier in ihrem Schlafzimmer ein Nickerchen machen und liegen bleiben bis zum Morgen. Das erforderte nur ein paar Tabletten mehr. Es war ein verlockender Gedanke.
    Sie hörte unten den Kies knirschen, als ein Auto die Auffahrt heraufrollte. Als sie ans Fenster ging, konnte sie nur noch die Rücklichter eines Fahrzeugs erkennen, das gerade um die Hausecke verschwand. Sie überlegte, aber sie erwartete keinen Besuch.
    Sie ging ins Arbeitszimmer ihres Bruders und trat dort ans Fenster. Drüben, über dem Hof, hatte jemand ein großes Auto in einen der alten Ställe hineingefahren. Die Lichter brannten noch, als müsste der Fahrer überlegen, was er als Nächstes tun wollte.
    Sie wartete, aber alles blieb, wie es war. Der Fahrer des Wagens schien darauf zu warten, dass sie den nächsten Schritt tat.
    Sie verließ Guys Arbeitszimmer und ging zur Treppe. Sie war steif vom langen Sitzen während der Meditation, und nahm langsam Stufe um Stufe. Der Geruch ihres Abendessens, das Valerie auf dem Herd stehen lassen hatte, wehte ihr entgegen. Sie würde in die Küche gehen, aber nicht, weil sie hungrig war, sondern weil es ihr das Vernünftigste zu sein schien.
    Wie Guys Arbeitszimmer lag auch die Küche nach hinten hinaus. Sie konnte das Essen als Vorwand benutzen, um nachzusehen, wer so unerwartet nach Le Reposoir gekommen war.
    Sie erfuhr es, als sie durch den Korridor nach hinten ging, wo durch eine halb offene Tür ein Lichtstrahl auf den Teppich fiel. Als sie die Tür aufstieß, sah sie ihren Neffen am Herd stehen und energisch in einem Topf rühren, der auf der hinteren Flamme köchelte.
    »Adrian!«, rief sie. »Ich dachte...«
    Er drehte sich herum.
    Ruth sagte: »Ich dachte... Du bist hier? Als deine Mutter sagte, dass sie abreist -«
    »- hast du geglaubt, ich würde auch abreisen. Natürlich. Wo sie hingeht, gehe ich im Allgemeinen auch hin. Aber diesmal nicht, Tante Ruth.« Er hielt ihr einen langen Holzlöffel hin, um sie von der Speise, die er umgerührt hatte - einem Gulasch, wie es aussah -, kosten zu lassen.
    »Hast du Appetit darauf? Möchtest du im Speisezimmer essen oder lieber hier?«
    »Danke dir, aber ich bin gar nicht hungrig.« Sie war eher ein wenig benommen, vielleicht weil sie die Schmerztabletten auf leeren Magen genommen hatte.
    »Das fällt mir schon lange auf«, sagte Adrian. »Du hast wahnsinnig abgenommen. Verliert denn da niemand ein Wort darüber?« Er trat zum Küchenschrank und nahm eine Schüssel heraus. »Aber heute Abend wirst du essen.«
    Er begann, das Gulasch in die Schüssel zu löffeln. Als sie voll war, deckte er sie zu und nahm aus dem Kühlschrank einen ebenfalls von Valerie vorbereiteten, grünen Salat. Aus dem Backrohr holte er eine weitere Schüssel - diese war mit Reis gefüllt -, und stellte alles auf den Tisch in der Mitte der Küche. Dazu ein

Weitere Kostenlose Bücher