12 - Wer die Wahrheit sucht
einen Weg zum Tresen zu bahnen.
Als er mit dem Drink zurückkam, sagte sie: »Ich war bei China. Sie haben Cherokee freigelassen. Man hat ihnen gesagt, dass sie abreisen können. Sollen, genauer gesagt. Mit der nächsten Maschine. Was ist denn da passiert?«
Er sah sie forschend an, lange, so lange, dass ihr neue Hitze ins Gesicht stieg. »Du hast Cherokee River sehr gern, nicht wahr?«, sagte er.
»Ich habe sie beide sehr gern. Simon, was ist geschehen? Bitte, sag es mir.«
»Das Gemälde wurde gestohlen, nicht gekauft«, sagte er und fügte in ausdruckslosem Ton hinzu: »In Südkalifornien.«
»In Südkalifornien?« Deborah wusste, dass ihre Stimme beunruhigt klang, aber sie konnte es nicht ändern, trotz der Ereignisse der letzten zwei Stunden.
»Ja. Südkalifornien.« Simon erzählte ihr die Geschichte des Gemäldes. Dabei sah er sie die ganze Zeit an, mit einem endlosen Blick, der sie zu ärgern begann, weil sie sich unter diesem Blick vorkam wie ein Kind, das seine Eltern irgendwie enttäuscht hat. Sie hasste diesen Blick - hatte ihn immer schon gehasst -, aber sie sagte nichts und ließ ihn schweigend zu Ende erklären.
»Die Schwestern vom St.-Clare's-Krankenhaus haben natürlich Vorsichtsmaßnahmen getroffen, als ihnen klar wurde, was sie da in Händen hatten, aber die reichten nicht aus. Irgendjemand hatte alles in Erfahrung gebracht oder wusste es von Anfang an: die Route, das Transportmittel und den Bestimmungsort. Es war ein gepanzerter Wagen, und die Wächter waren bewaffnet, aber wir haben es eben mit Amerika zu tun, dem Land, wo du ungehindert alles vom AK-47 bis zum Sprengstoff kaufen kannst.«
»Der Wagen wurde überfallen?«
»Als das Bild von der Restaurierung zurückgebracht wurde, ja. Ein Kinderspiel. Und so, wie die Sache aufgezogen war, hat gerade auf einer kalifornischen Schnellstraße keiner Verdacht geschöpft.«
»Wie meinst du das? Ein Stau? Straßenarbeiten?«
»Beides.«
»Aber wie haben sie es gemacht? Wie konnten sie entkommen?«
»Der Motor des Wagens überhitzte im Stau infolge eines winzigen Lecks im Kühler, wie später entdeckt wurde. Der Fahrer fuhr an den Straßenrand. Er musste aussteigen, um nach dem Motor zu sehen. Ein Motorradfahrer erledigte den Rest.«
»Vor so vielen Zeugen? Vor all den Leuten, die in den anderen Autos und Lastwagen saßen?«
»Ja. Aber was haben sie denn schon gesehen? Zunächst einen Motorradfahrer, der anhielt und einem Fahrzeug, das eine Panne hatte, seine Hilfe anbot. Später denselben Motorradfahrer, wie er sich zwischen den stehenden Fahrzeugen durchschlängelte -«
»- die ihm nicht folgen konnten. Ja. Ich kann mir vorstellen, wie es abgelaufen ist. Aber wo... Woher sollte Guy Brouard gewusst haben... So weit weg, in Südkalifornien?«
»Er war seit Jahren auf der Suche nach dem Gemälde, Deborah. Wenn ich es geschafft habe, die Story über das Bild im Internet aufzustöbern, wird ihm das auch gelungen sein. Und als er alle Informationen beisammen hatte, brauchte er nur noch nach Kalifornien zu reisen und das Geld auf den Tisch zu legen.«
»Aber wenn er nicht wusste, was für ein bedeutendes Werk es war... keine Ahnung hatte, wer der Maler war... eigentlich überhaupt nichts wusste... Simon, das heißt, dass er über Jahre sämtliche Storys in der Kunstwelt verfolgt haben muss. Über Jahre!«
»Er hatte die Zeit dazu. Und diese Geschichte war ja ganz außergewöhnlich. Ein Mann, der den Zweiten Weltkrieg mitgemacht hat, schenkt auf dem Totenbett dem Krankenhaus, das seinem Sohn als Kind das Leben gerettet hat, ein altes Bild. Das Bild entpuppt sich als ein wertvolles Kunstwerk, von dessen Existenz bisher niemand etwas ahnte. Es ist Millionen wert, und die Nonnen beabsichtigen, es versteigern zu lassen, um das Betriebskapital ihres Krankenhauses aufzustocken. Das ist ein Knüller, Deborah. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Brouard auf die Story aufmerksam werden und etwas unternehmen würde.«
»Er ist also persönlich hinübergeflogen...«
»Um alles zu veranlassen, ja. Ausschließlich dazu. Um die notwendigen Schritte zu veranlassen.«
»Hm...« Deborah wusste, wie er ihre nächste Frage möglicherweise interpretieren würde, aber sie stellte sie trotzdem. Sie musste Gewissheit haben, weil hier irgendetwas nicht stimmte, sie spürte es. Sie hatte schon vorhin in der Smith Street das Gefühl gehabt. Und sie hatte es jetzt wieder. »Wenn das alles in Kalifornien passiert ist, wieso hat Le Gallez dann Cherokee auf freien
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