12 - Wer die Wahrheit sucht
der Küche, bis du nicht mindestens die Hälfte gegessen hast.«
Es entging Ruth nicht, dass er ihre Frage nicht beantwortete. Und das, in Zusammenhang mit seiner unerwarteten Rückkehr nach Le Reposoir, machte sie nachdenklich. Aber sie hatte keinen Grund, ihrem Neffen mit Argwohn zu begegnen. Er wusste vom Testament seines Vaters, und sie hatte ihm gerade eröffnet, wie das ihre aussah. Dennoch sagte sie: »All diese Fürsorge! Ich bin richtig - ich fühle mich geschmeichelt.«
Über den Tisch hinweg, zwischen ihnen die dampfenden Schüsseln mit dem Reis und dem Fleisch, sahen sie einander an.
Die Stille zwischen ihnen hatte eine andere Qualität als jene, die Ruth vorher genossen hatte, und sie war froh, als das Telefon klingelte.
Sie wollte aufstehen, um hinzugehen.
Adrian ließ es nicht zu. »Nein«, sagte er, »ich möchte, dass du isst, Tante Ruth. Du hast die ganze letzte Woche überhaupt nicht auf dich geachtet. Wenn es etwas Wichtiges ist, wird der Anrufer sich bestimmt noch einmal melden. Inzwischen wirst du etwas essen.«
Sie hob die Gabel, die ihr ungeheuer schwer schien. »Ja, gut«, sagte sie. »Wenn du darauf bestehst, mein Junge...« Es war ja egal, ob so oder so. Das Ende würde dasselbe sein. »Aber wenn ich fragen darf... Warum tust du das, Adrian?«
»Keiner hat jemals begriffen, dass ich ihn wirklich geliebt habe«, antwortete Adrian. »Trotz allem. Und er würde wollen, dass ich jetzt hier bin, Tante Ruth. Das weißt du so gut wie ich. Er würde wollen, dass ich bis zum Ende durchhalte, weil er das auch getan hätte.«
Was er sagte, war wahr. Ruth konnte es nicht leugnen. Und darum führte sie die Gabel zum Mund.
29
Als Deborah ging, waren Cherokee und China dabei, ihre Sachen durchzusehen, um sich vor ihrer Abreise aus Guernsey zu vergewissern, dass nichts fehlte. Zuerst allerdings verlangte Cherokee die Umhängetasche seiner Schwester und kramte auf der Suche nach ihrer Brieftasche geräuschvoll darin herum. Er wollte wissen, ob sie so viel Bargeld in der Tasche hatte, dass sie am Abend alle zusammen zum Essen ausgehen und feiern konnten. » Vierzig Pfund, Chine?«, rief er, als er sah, wie es um die Barschaft seiner Schwester bestellt war. »Du meine Güte. Da muss ich wohl selber was springen lassen.«
»Na, das wäre mal was ganz Neues«, meinte China.
»Aber warte mal!« Cherokee hielt einen Finger hoch, als hätte er plötzlich eine Eingebung gehabt. »Bestimmt gibt es in der High Street einen internationalen Geldautomat.«
»Und wenn keiner da ist«, fügte China hinzu, »habe ich rein zufällig meine Kreditkarte bei mir.«
»Hey, heute ist mein Glückstag!«
Bruder und Schwester lachten. Sie öffneten ihre Matchsäcke und begannen, ihre Sachen zu sortieren. An dieser Stelle verabschiedete sich Deborah. Cherokee brachte sie zur Tür. Im trüben Licht der Außenbeleuchtung hielt er sie fest.
So in Schatten getaucht sah er dem halbwüchsigen Jungen, der er im Herzen wahrscheinlich immer bleiben würde, sehr ähnlich. »Debs«, sagte er. »Danke. Ohne dich... ohne Simon... Danke euch.«
»So viel haben wir gar nicht getan.«
»Doch. Schon allein, dass du hier warst. Aus reiner Freundschaft.« Er lachte kurz. »Ich wollte, es hätte mehr sein können. Ach, verdammt. Wusstest du das? Ich wette, ja. Eine verheiratete Frau. Mit dir hatte ich nie Glück.«
Deborah zwinkerte verwirrt. Ihr wurde heiß, aber sie sagte nichts.
»Falsche Zeit, falscher Ort«, fuhr Cherokee fort. »Wenn die Umstände anders gewesen wären, entweder damals oder heute.« Er blickte an ihr vorbei zum kleinen Innenhof und zu den Straßenlichtern auf der anderen Seite. »Ich wollte nur, dass du es weißt. Und es ist nicht wegen dem, was du für uns getan hast. Es war immer so.«
»Danke«, sagte Deborah. »Das werde ich nicht vergessen, Cherokee.«
»Wenn einmal eine Zeit kommen sollte...«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Die wird nicht kommen«, sagte sie. »Aber ich danke dir.«
Er sagte: »Ja, hm«, und küsste sie auf die Wange. Und bevor sie sich von ihm entfernen konnte, umfasste er ihr Kinn und küsste sie auf den Mund. Seine Zunge berührte ihre Lippen, öffnete sie, verweilte und zog sich zurück. »Das wollte ich schon tun, als ich dich das erste Mal gesehen habe«, sagte er. »Wieso, zum Teufel, haben diese Engländer so ein Glück?«
Deborah trat von ihm weg, aber sie schmeckte den Kuss. Sie merkte, dass ihr Herz ruhig schlug. Aber das würde nicht so bleiben, wenn sie noch einen
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