12 - Wer die Wahrheit sucht
Notwendige zu erledigen, konnte man ihm schon zumuten. Doch als hätte der Dackel Deborahs Gedanken gelesen, verschwand er schleunigst in seinem Korb, während Alaska zu miauen begann.
»Glaub ja nicht, du kannst dich drücken«, sagte Deborah zu dem Hund, der sie mit seelenvollem Blick ansah, wie er das immer tat, wenn er besonders Mitleid erregend wirken wollte. »Wenn du jetzt nicht rausgehst, marschiert Dad nachher mit dir zum Fluss runter. Das weißt du doch.«
Peach schien bereit, dieses Risiko einzugehen. Er legte den Kopf auf die Pfoten und schloss die Augen. »Na schön«, sagte Deborah. Sie füllte den Napf der Katze mit der täglichen Futterration und stellte ihn sorgfältig außer Reichweite des Hundes. Sie wusste, er würde sich darüber hermachen, sobald sie ihm den Rücken kehrte, auch wenn er jetzt tiefen Schlaf vortäuschte. Sie goss ihren Tee auf und trug ihn nach oben, im Dunkeln ihren Weg ertastend.
Es war kalt im Arbeitszimmer. Sie schloss die Tür und zündete das Gasfeuer an. In einem Hefter auf einem der Bücherborde hatte sie eine Serie kleiner Polaroidfotos gesammelt, die sie zu dem Thema, mit dem sie sich als Nächstes beschäftigen wollte, gemacht hatte. Sie trug den Hefter zum Schreibtisch, setzte sich in Simons abgewetzten Ledersessel und sah die Bilder durch.
Sie dachte an Dorothea Lange und stellte sich die Frage, ob sie die Fähigkeit hatte, die nötig war, um in einem Gesicht, dem richtigen Gesicht, einen unvergesslichen Ausdruck einzufangen, der eine ganze Ära charakterisieren konnte. Sie hatte kein von Staubstürmen und Missernten zermürbtes dust bowl-Amerika. der Dreißigerjahre erlebt, ein riesiges Trockengebiet, dessen Hoffnungslosigkeit sich im Antlitz einer Nation eingegraben hatte. Und sie wusste, wenn es ihr gelingen sollte, ein Abbild dieser, ihrer eigenen Epoche einzufangen, musste sie über die Grenzen hinausdenken, die seit langem durch dieses beeindruckende, schmerzvolle und ausgehöhlte Gesicht einer Frau und ihrer Kinder und einer Generation der Verzweiflung ausgedrückt wurden. Zumindest der halben Arbeit glaubte sie, gewachsen zu sein: Jenem Teil, bei dem es um das Denken ging. Aber war der andere Teil wirklich das, was sie wollte - noch einmal zwölf Monate durch die Straßen ziehen, noch einmal zehn- oder zwölftausend Fotos schießen, unablässig bemüht, hinter die von Mobiltelefonen und ewiger Eile beherrschte Welt zu sehen, die die Wahrheit dessen, was wirklich da war, verzerrte. Selbst wenn sie das schaffte, was würde es ihr auf lange Sicht bringen? Im Augenblick wusste sie es ganz einfach nicht.
Seufzend legte sie die Fotos auf den Schreibtisch. Nicht zum ersten Mal überlegte sie, ob nicht China den vernünftigeren Weg gewählt hatte. Mit kommerzieller Fotografie ließen sich Miete, Essen und Kleidung bezahlen. Das musste nicht unbedingt ein seelenloses Geschäft sein. Und eben weil sie in der glücklichen Lage war, nicht für Miete, Essen und Kleidung sorgen zu müssen, drängte es sie, an anderer Stelle einen Beitrag zu leisten. Wenn sie schon nicht gebraucht wurde, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern, konnte sie wenigstens ihre Begabung dazu nutzen, etwas für die Gesellschaft zu tun, in der sie lebte.
Aber würde sie das tatsächlich damit erreichen, dass sie sich der kommerziellen Fotografie zuwandte? Und was wollte sie überhaupt fotografieren? Chinas Bilder hatten ganz direkt mit ihrem Interesse an Architektur zu tun. Sie hatte es sich von Beginn an zum Ziel gesetzt, eine Fotografin von Gebäuden zu werden, und tat heute beruflich das, was sie sich vorgenommen hatte. Sie war sich nicht untreu geworden wie Deborah sich, ihrer Meinung nach, untreu werden würde, wenn sie den Weg des geringsten Widerstands ging und auf kommerzielle Fotografie umstieg. Und was würde sie dann überhaupt fotografieren? Kindergeburtstagsfeste? Rockstars, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurden?
Gefängnis. Ach Gott. Mit einem leisen Aufstöhnen stützte sie den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Wie wichtig waren diese Überlegungen, gemessen an der Situation, in der China sich befand? China, die für sie in Santa Barbara da gewesen war, eine liebevolle Freundin in einer Zeit, da sie eine solche am dringendsten gebraucht hatte. Ich habe euch beide doch zusammen gesehen, Debs. Wenn du es ihm sagst, kommt er bestimmt mit der nächsten Maschine zurück und sagt dir, dass er dich heiraten will. Das will er doch. Aber so will ich es nicht,
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