12 - Wer die Wahrheit sucht
ins Talbot Valley kam, nur einer Einladung Franks gefolgt, die dieser bei dem geselligen Beisammensein zum Abschluss eines Vortrags bei der historischen Gesellschaft ausgesprochen hatte. Sie hatten sich über dem Marktplatz von St. Peter Port in dem alten, seit langem schon der Guille-Alles-Bibliothek einverleibten Versammlungssaal getroffen, um sich einen Vortrag über die Ermittlungen der Alliierten im Jahr 1945 zum Fall Hermann Göring anzuhören. Der hatte sich allerdings als eine trockene Rekapitulation von Fakten herausgestellt, die einem Werk mit dem Titel The Consolidated Interrogation Report entnommen waren. Die meisten Mitglieder schliefen schon nach zehn Minuten ein, Guy Brouard jedoch schien jedes Wort des Redners zu verschlingen, und Frank hatte daraus die Hoffnung geschöpft, in ihm einen Gesinnungsgenossen zu finden. Er hatte ihn nach dem Ende des Vortrags angesprochen, ohne zu wissen, wer er war, und zu seiner Überraschung erfahren, dass dies der Mann war, der das verwahrloste Thibeault Manor zwischen St. Martin und St. Peter Port übernommen und seine Renaissance als Le Reposoir bewerkstelligt hatte.
Wäre Guy Brouard nicht so ein geselliger Mensch gewesen, hätte Frank an diesem Abend wahrscheinlich nur ein paar Höflichkeiten mit ihm ausgetauscht und wäre seiner Wege gegangen. Doch Guy hatte ein Interesse an Franks Bemühungen gezeigt, die Erinnerung an die deutsche Besatzung wach zu halten, das dieser schmeichelhaft fand, darum hatte er ihn eingeladen, ihn in Moulin des Niaux zu besuchen.
Guy war zweifellos in dem Glauben gekommen, die Einladung sei nicht mehr als die höfliche Geste eines Mannes mit einem Steckenpferd, der sich über das Interesse eines anderen an seiner Beschäftigung freut. Aber beim Anblick des ersten Raums voller Kisten und Kartons, Schuhschachteln mit Patronen und Orden, Kriegsgerät, das ein halbes Jahrhundert alt war, Bajonetten und Messern und Gasmasken und Fernmeldegeräten hatte er leise und beifällig durch die Zähne gepfiffen und sich auf eine längere Besichtigung eingerichtet.
Diese Besichtigung hatte mehr Zeit als einen Tag in Anspruch genommen. Viel mehr. Guy Brouard war über zwei Monate lang regelmäßig nach Moulin des Niaux gekommen, um das Material in den anderen beiden Häusern zu sichten. Als er schließlich gesagt hatte: »Sie brauchen ein Museum für diese Schätze, Frank«, war in Frank der Keim gelegt.
Wie ein Traum war es ihm damals vorgekommen. Seltsam, nun sehen zu müssen, dass aus dem Traum langsam ein Albtraum geworden war.
Frank trat zu dem metallenen Aktenschrank, in dem er und sein Vater alle Kriegsdokumente aufbewahrten, die ihnen im Lauf der Zeit in die Hände gefallen waren. Sie besaßen dutzendweise alte Ausweise, Lebensmittelkarten und Führerscheine, auch deutsche Bekanntmachungen, auf denen für solche Kapitalverbrechen wie das Aussenden von Brieftauben die Todesstrafe angedroht wurde, sowie zahllose deutsche Anordnungen zu jedem erdenklichen Thema, durch die man das tägliche Leben der Inselbewohner zu kontrollieren versucht hatte. Ihr kostbarster Besitz war ein halbes Dutzend Exemplare des kleinen Untergrundblatts G.I.F.T. dessen Verbreitung drei Männer aus Guernsey das Leben gekostet hatte.
Diese Blätter nahm Frank jetzt aus dem Aktenschrank, trug sie zu einem alten Stuhl mit geflochtenem Sitz und setzte sich, wobei er sie vorsichtig auf dem Schoß hielt. Es waren lose Blätter, und von dem auf dünnes Papier getippten Text waren so viele Durchschläge angefertigt worden, wie man Blätter unter die Walze einer alten Schreibmaschine hatte einspannen können. Die Blätter waren so hauchdünn, dass es ein Wunder war, wie sie auch nur einen Monat überstanden hatten, geschweige denn mehr als ein halbes Jahrhundert; jedes von ihnen ein Zeugnis des Muts von Männern, die sich von den Anordnungen und Drohungen der Nazis nicht hatten einschüchtern lassen.
Wäre Frank nicht sein Leben lang die Bedeutung der Geschichte nahe gebracht worden, wäre ihm nicht von Kindheit an bis in sein einsames Erwachsenendasein hinein eingebläut worden, welch unschätzbaren Wert jedes scheinbar noch so belanglose Erinnerungsstück an die Besatzungszeit darstellte, er hätte vielleicht gedacht, dass eines dieser Blätter als Symbol für den Widerstand eines Volkes ausreiche. Aber ein Exemplar allein war einem fanatischen Sammler niemals genug, und wenn es das leidenschaftliche Bestreben dieses Sammlers war, die Erinnerung wach zu halten und die
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