12 - Wer die Wahrheit sucht
sich die Erzählungen seines Vaters darum, wie die Bevölkerung damals gelitten hatte - ganz zu schweigen davon, was die Leute sich alles hatten einfallen lassen, um die Unternehmungen der Deutschen auf der Insel zu sabotieren. So wie andere Kinder mit der Muttermilch aufgezogen wurden, war Frank mit den Geschichten seines Vaters groß geworden. Vergiss das nie, Frankie. Ganz gleich, was in deinem Leben geschieht, mein Junge, das darfst du nie vergessen.
Er hatte es nicht vergessen, und im Gegensatz zu vielen Kindern, die der ewig gleichen Geschichten, die die Eltern ihnen am Volkstrauertag zu erzählen pflegten, nach einer Weile müde geworden waren, hatte Frank Ouseley an den Lippen seines Vaters gehangen und gewünscht, er wäre ein Jahrzehnt früher zur Welt gekommen und hätte wenigstens als Kind an diesen schweren und heroischen Zeiten teilhaben können.
So etwas gab es heute nicht mehr. Die Auseinandersetzungen auf den Falkland-Inseln oder am Golf, diese kurzen, hässlichen Kriege, die praktisch um nichts geführt wurden und nur das Volk zu fahnenschwingendem Patriotismus aufstacheln sollten, konnte man damit nicht vergleichen, und schon gar nicht den Konflikt in Nord-Irland, wo er selbst gedient und sich, ständig auf der Hut vor Heckenschützen, gefragt hatte, was, zum Teufel, er in diesem Konfessionskrieg verloren hatte, der von Verbrechern geschürt wurde, die seit mehr als hundert Jahren aufeinander schossen. Von Heldentum konnte da nirgends die Rede sein, denn es gab keinen eindeutig identifizierbaren Feind, gegen den man das Vaterland bis in den Tod verteidigen konnte. Nein, diese Geschichten hatten mit dem Zweiten Weltkrieg nichts gemein.
Nachdem er seinen Vater sicher auf den Toilettenrand gesetzt hatte, griff er nach den Kleidern, die sauber gefaltet in einem Stapel auf dem Waschbecken lagen. Er machte die Wäsche selbst, da waren die Unterhose und das Unterhemd nicht ganz so weiß, wie sie vielleicht hätten sein können, aber die Sehkraft seines Vaters ließ stetig nach, und Frank war ziemlich sicher, dass es ihm nicht auffiel.
Wenn er seinen Vater ankleidete, ging das ganz mechanisch vor sich, indem er ihm die einzelnen Kleidungsstücke in immer derselben Reihenfolge überzog. Es war ein Ritual, das er einmal beruhigend gefunden hatte, weil es den Tagen mit Graham eine Gleichförmigkeit verlieh, die zu versprechen schien, dass diese Tage ewig fortdauern würden. Jetzt jedoch beobachtete er den alten Mann besorgt und fragte sich, ob die Atemlosigkeit und die wächserne Blässe seiner Haut Vorboten des nahenden Endes ihres gemeinsamen Lebens waren, das sich nun schon über eine Spanne von mehr als fünfzig Jahren erstreckte. Vor zwei Monaten noch wäre er vor dem Gedanken zurückgeschreckt. Vor zwei Monaten wollte er nichts anderes als Zeit genug, um den Bau des Graham-Ouseley-Kriegsmuseums zu verwirklichen, damit sein Vater am Morgen der Eröffnung stolz das Band durchschneiden konnte. Die vergangenen sechzig Tage aber hatten alles grundlegend verändert, und das war jammerschade, denn das, was ihn und seinen Vater zusammenschweißte, solange er denken konnte, war ihrer beider Bestreben, jedes Andenken an die Jahre der deutschen Besatzung auf der Insel zu sammeln. Das war ihr gemeinsames Lebenswerk und ihrer beider Leidenschaft, die auf der Liebe zur Geschichte und der Überzeugung beruhte, dass die heutige und die künftige Bevölkerung Guernseys darüber aufgeklärt werden sollte, was ihre Vorfahren erduldet hatten.
Dass aus ihren Plänen nun nichts werden würde, wollte Frank seinen Vater vorläufig nicht wissen lassen. Warum sollte er ihm, da seine Tage ohnehin gezählt waren, einen Traum zerstören, den er sich gar nicht erlaubt hätte, wäre nicht unversehens Guy Brouard in ihr Leben getreten.
»Was steht heute an?«, fragte Graham, als Frank ihm die Trainingshose über dem eingefallenen Hinterteil hochzog. »Wird Zeit, mal nach dem Bauplatz zu sehen. Die müssten jetzt eigentlich jeden Tag anfangen, stimmt's, Frankie? Da wirst du doch dabei sein und den ersten Spatenstich machen, wie sich das gehört. Oder will Guy das selber machen?«
Frank wich den Fragen aus, wie er seit dem Tod Guy Brouards jedem Gespräch über den Mann ausgewichen war. Er hatte seinem Vater die Nachricht vom grausamen Tod ihres Freundes und Wohltäters bislang vorenthalten, weil er fürchtete, sie könnte bei seinem Gesundheitszustand zu viel für ihn sein. Außerdem konnten sie im Moment sowieso nur warten, ob
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