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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Cherokee sich an der Tischkante fest.
    »Auf das, was Ihre Schwester möglicherweise getan hat. Ohne Ihr Wissen.«

3
    »Schneckenwein haben wir's genannt, Frankie. Das Gesöff, das wir damals statt Tee getrunken haben. Das hab ich dir nie erzählt, hm? Tja, ich hab nie viel darüber geredet, wie schlecht es damals mit dem Essen geworden ist. Man denkt nicht gern an diese Zeiten. Die verdammten Krauts... Was die unserer Insel angetan haben...«
    Frank Ouseley schob seine Hände behutsam unter den Achselhöhlen seines Vaters hindurch, während der alte Mann weiterschwatzte. Er hob ihn von dem Plastikhocker, der in der Wanne stand, und stellte seinen linken Fuß auf die zerschlissene Matte, die das kalte Linoleum bedeckte. Er hatte am Morgen die Heizung ganz aufgedreht, aber es kam ihm immer noch kalt im Badezimmer vor. Die eine Hand am Arm seines Vaters, um diesen zu stützen, zog er das Handtuch vom Halter und schüttelte es aus. Er legte es seinem Vater fest um die Schultern, die so schlaff und faltig waren wie der ganze alte Körper. Graham Ouseley war zweiundneunzig Jahre alt, und das Fleisch hing an seinen Knochen wie zäher Brotteig.
    »Wir haben damals alles in die Kanne geschmissen, was wir kriegen konnten«, fuhr Graham fort und lehnte seinen mageren Körper an Franks etwas rundere Schulter. »Gehackte Pastinaken, zum Beispiel, wenn's welche gab. Die haben wir natürlich vorher geschmort. Kamelienblätter, Lindenblüten und Zitronenmelisse. Und zum Schluss haben wir noch Natron dran getan, damit die Blätter ein bisschen ergiebiger waren. Und das Ganze hieß dann Schneckenwein. Ich meine, Tee konnte man das ja wirklich nicht nennen.« Er lachte glucksend, und seine knochigen Schultern zuckten. Aus dem Lachen wurde ein Husten. Aus dem Husten ein krampfhaftes Ringen um Atem. Frank packte seinen Vater, um ihn auf den Beinen zu halten.
    »Ruhig, Dad.« Er hielt den gebrechlichen Körper fester, obwohl er immer fürchtete, der kräftige Griff würde eines Tages viel schlimmeren Schaden anrichten als ein Sturz, und die alten Knochen würden unter seinen Händen brechen wie die zarten Beinchen eines Regenpfeifers. »Komm. Ich helf dir aufs Klo.«
    »Ich muss nicht«, protestierte Graham und versuchte, seinen Sohn abzuschütteln. »Was ist los mit dir? Wirst du vergesslich, oder was? Ich hab doch erst vor dem Baden gepinkelt.«
    »Ja, ich weiß. Ich will ja auch nur, dass du dich hinsetzt.«
    »Meinen Beinen fehlt nichts. Ich kann prima stehen. Das hab ich damals bei den Krauts gelernt. Man hat still dagestanden und so getan, als würde man um Fleisch anstehen. Nachrichten austauschen? Nie im Leben. Ein Funkempfänger im Misthaufen? Bei mir doch nicht. Wenn man so ausgeschaut hat, als würde man genauso gern ›Heil Anstreicher‹ rufen wie ›Gott schütze den König‹, haben sie einen in Ruhe gelassen. Man musste nur vorsichtig sein, dann konnte man tun, was man wollte.«
    »Ich weiß, Dad«, sagte Frank geduldig. »Das hast du mir erzählt.« Er ließ seinen Vater trotz dessen Proteste auf den Toilettensitz hinuntergleiten und begann, ihn abzutrocknen. Mit einiger Besorgnis achtete er dabei auf den Atem seines Vaters und wartete darauf, dass er sich wieder beruhigen würde. Herzinsuffizienz, hatte der Arzt gesagt. Es gibt natürlich Medikamente, die er nehmen kann. Aber ich will offen sein: In diesem fortgeschrittenen Alter ist es nur eine Frage der Zeit. Es ist ein Geschenk Gottes, Frank, dass er so lange gelebt hat.
    Im ersten Moment hatte Frank bei dieser Nachricht gedacht, nein, nicht jetzt! Noch nicht! Aber nun war er bereit, seinen Vater gehen zu lassen. Ihm war bewusst, dass er sich glücklich preisen konnte, ihn so lange, bis in sein eigenes sechstes Jahrzehnt hinein, um sich gehabt zu haben. Er hatte zwar gehofft, sein Vater würde wenigstens noch anderthalb Jahre durchhalten, aber mittlerweile hatte er sich damit abgefunden - mit einem Schmerz, der wie ein Netz schien, dem er niemals entkommen würde -, dass dies nicht sein sollte.
    »Ach ja?«, fragte Graham und kniff die Augen zusammen, während er in seinem Gedächtnis kramte. »Hab ich dir das alles schon mal erzählt, mein Junge? Wann denn?«
    Zwei- oder dreihundert Mal, dachte Frank. Seit seiner Kindheit bekam er die Geschichten seines Vaters aus dem Zweiten Weltkrieg zu hören, und die meisten kannte er auswendig. Die Deutschen hatten Guernsey in Vorbereitung auf die geplante Invasion Englands fünf Jahre lang besetzt gehalten, und immer drehten

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