12 - Wer die Wahrheit sucht
hielt. Tommy hörte zu, wie er nach Deborahs Erfahrung immer zuhörte: Den Blick der braunen Augen auf den jeweils Sprechenden gerichtet, während er alle anderen Geräusche aus den in der Nähe befindlichen Büros auszublenden schien.
»Wie nahe sind Ihre Schwester und Mr. Brouard sich gekommen, als Sie beide bei ihm zu Gast waren?«, fragte Tommy, als Cherokee seine Ausführungen beendet hatte.
»Sie waren öfter zusammen. Sie haben sich gut verstanden, weil sie beide an Architektur interessiert waren. Aber das war's dann auch schon, jedenfalls soweit ich's mitgekriegt hab. Er war nett zu ihr. Aber zu mir war er auch nett. Er schien ganz allgemein ein netter Mensch gewesen zu sein.«
»Vielleicht aber auch nicht«, meinte Tommy.
»Ja, klar. Logisch. Wenn jemand ihn umgebracht hat.«
»Wie ist er eigentlich umgekommen?«
»Er ist erstickt. Das hat der Anwalt rausgekriegt, nachdem China beschuldigt worden war. Das ist übrigens alles, was der Anwalt in Erfahrung gebracht hat.«
»Sie meinen, er wurde erdrosselt?«
»Nein. Er ist erstickt. An einem Stein.«
»An einem Stein?«, wiederholte Tommy. »Du meine Güte! An was für einem Stein denn? Einem Kiesel vom Strand?«
»Keine Ahnung. Wir wissen im Moment nicht mehr. Nur dass es ein Stein war und er daran erstickt ist. Oder, genauer gesagt, dass meine Schwester ihn irgendwie damit erstickt hat, da sie ihr ja vorwerfen, ihn getötet zu haben.«
»Du siehst, Tommy«, warf Deborah ein, »es ist völlig unsinnig.«
»Wie soll China ihn denn mit dem Stein erstickt haben?«, fragte Cherokee aufgebracht. »Wie soll überhaupt jemand ihn damit erstickt haben? Wie soll das gegangen sein? Hat er einfach den Mund aufgemacht und sich den Stein in die Kehle stoßen lassen?«
»Das ist eine gute Frage«, meinte Lynley zustimmend.
»Es kann genauso gut ein Unglücksfall gewesen sein«, fuhr Cherokee fort. »Er kann doch den Stein aus irgendeinem Grund in den Mund genommen haben.«
»Es muss Hinweise darauf geben, dass es anders gewesen ist, wenn die Polizei eine Verhaftung vorgenommen hat«, wandte Tommy ein. »Wenn ihm jemand den Stein mit Gewalt in die Kehle gestoßen hat, hat er sicher am Gaumen Verletzungen erlitten. Vielleicht auch an der Zunge. Hätte er ihn versehentlich geschluckt. Ja. Ich kann mir vorstellen, wieso sie sofort auf Mord gekommen sind.«
»Aber warum sofort auf China?«, fragte Deborah.
»Es muss noch andere Indizien geben, Deb.«
»Meine Schwester hat niemanden umgebracht!« Cherokee sprang auf und ging erregt zum Fenster. Dort drehte er sich um. »Wieso kapiert das niemand?«
»Kannst du etwas tun?«, fragte Deborah Tommy. »In der Botschaft haben sie uns vorgeschlagen, jemanden zu engagieren, aber ich dachte, du könntest vielleicht. Kannst du da mal anrufen? Bei der Polizei? Und ihnen klar machen...? Ich meine, offensichtlich werten sie nicht alles ordnungsgemäß aus. Das muss man ihnen sagen.«
Tommy machte ein nachdenkliches Gesicht. »Streng genommen, fällt diese Sache nicht in den Zuständigkeitsbereich von Großbritannien, Deb. Die Polizeibeamten werden zwar hier ausgebildet, und die Behörden können um Rechtshilfe bitten, aber von hier aus etwas anzuleiern... Wenn du das gehofft hast, muss ich dich enttäuschen, das geht nicht.«
»Aber -« Deborah hob beschwörend die Hand, merkte, dass diese Geste einer flehentlichen Bitte nahe kam, fand dies erbärmlich und ließ die Hand in den Schoß sinken. »Wenn sie wenigstens wüssten, dass man hier nicht einfach gleichgültig zusieht, dann würde das vielleicht...«
Tommy blickte forschend in ihr Gesicht, dann lächelte er. »Du änderst dich nie, hm?«, fragte er liebevoll. »Na schön. Mal sehen, was ich tun kann.«
Es dauerte nur ein paar Minuten, die richtige Nummer in Guernsey festzustellen und den ermittelnden Polizeibeamten ausfindig zu machen, der die Morduntersuchung dort leitete. Mord war auf der Insel etwas so Ungewöhnliches, dass Tommy nur das Wort auszusprechen brauchte, um augenblicklich mit dem zuständigen Mann verbunden zu werden.
Aber der Anruf brachte ihnen nichts ein. Von New Scotland Yard ließ man sich in St. Peter Port offensichtlich nicht beeindrucken. Als Tommy erklärte, wer er war und warum er anrief, und anbot, die Kollegen zu unterstützen, soweit das in der Macht der Metropolitan Police stünde, bekam er zu hören - wie er Deborah und Cherokee gleich nach Ende des Telefongesprächs berichtete -, auf den Kanalinseln sei alles unter Kontrolle. Und im
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