12 - Wer die Wahrheit sucht
könnte.«
»Ich weiß. Deswegen -«
»Wenn ihr also nicht inzwischen einen in London gefunden habt, verstehe ich nicht, was du mit einer Reise nach Guernsey bezweckst. Es sei denn, du willst China moralische Unterstützung geben. Was natürlich absolut verständlich wäre.«
Deborah presste die Lippen aufeinander. Er wusste, was sie dachte: dass er viel zu sachlich, zu logisch, zu sehr der objektive Wissenschaftler sei, in einer Situation, in der Gefühl gefragt war.
Und nicht nur Gefühl, sondern unverzügliches Handeln, wenn auch noch so wenig durchdacht.
»Ich habe nicht vor, einen Privatdetektiv zu engagieren, Simon«, erklärte sie kühl. »Jedenfalls nicht gleich. Cherokee und ich... Wir setzen uns mit Chinas Anwalt zusammen, sehen uns das Beweismaterial der Polizei an, und wir reden mit jedem, der bereit ist, mit uns zu sprechen. Wir sind ja nicht die Polizei, also werden die Leute keine Scheu vor uns haben, und wenn jemand etwas weiß... wenn die Polizei etwas übersehen hat... Wir werden die Wahrheit aufdecken.« »China ist unschuldig«, stimmte Cherokee ein. »Die Wahrheit - sie ist irgendwo da drüben. Und China braucht -«
»Das heißt, dass ein anderer schuldig ist«, unterbrach St. James, »und das macht die ganze Situation nicht nur sehr heikel, sondern auch gefährlich.« Er sagte nicht, was er an dieser Stelle am liebsten gesagt hätte: Ich verbiete dir, zu reisen. Sie lebten schließlich nicht im achtzehnten Jahrhundert. Deborah war unabhängig, wenn auch nicht in finanzieller Hinsicht. Er konnte sie von der Reise abhalten, indem er ihr den Geldhahn zudrehte, oder was man sonst tat, um einer Frau die finanzielle Bewegungsfreiheit zu rauben. Aber solche Schikanen waren unter seinem Niveau. Er war immer schon der Auffassung gewesen, dass vernünftige Argumente wirksamer waren als Zwang. »Wie wollt ihr die Leute finden, mit denen ihr sprechen könnt?«
»Ich denke doch, dass es in Guernsey Telefonbücher gibt«, antwortete Deborah.
»Ich meine, woher wollt ihr wissen, mit wem ihr euch unterhalten müsst«, sagte St. James.
»Cherokee weiß das. Und China auch. Sie haben bei Brouard im Haus gewohnt und sind anderen Leuten begegnet. Sie wissen die Namen.«
»Aber warum sollten diese Leute mit Cherokee sprechen? Oder mit dir, wenn sie von deiner Verbindung zu China erfahren?«
»Sie werden nichts davon erfahren.«
»Glaubst du im Ernst, dass die Polizei ihnen das nicht sagen wird? Und selbst wenn sie mit euch sprechen, selbst wenn ihr in dieser Hinsicht Erfolg habt, wie soll es weitergehen?«
»Womit?«
»Mit den Hinweisen, den Indizien. Wie wollt ihr das Material auswerten? Wie wollt ihr es erkennen, wenn ihr etwas Neues entdeckt?«
»Ich hasse es, wenn du -« Deborah wandte sich Cherokee zu. »Würdest du uns einen Moment allein lassen?«
Cherokee blickte von ihr zu St. James. »Das geht zu weit«, sagte er. »Du hast genug getan. Erst die Botschaft, dann Scotland Yard. Lass mich einfach nach Guernsey zurückfliegen, dann werde ich -« »Lass uns einen Moment allein«, wiederholte Deborah mit Nachdruck. »Bitte.«
Cherokee schien versucht, zu widersprechen, aber er unterließ es. Er ging weg, um eine Liste mit Prozessdaten zu studieren, die an einem Anschlagbrett hing.
Zornig sagte Deborah zu St. James: »Warum tust du das?«
»Ich versuche nur, dir klar zu machen -«
»Du hältst mich für total unfähig, stimmt's?«
»Nein, das stimmt nicht.«
»Unfähig, mit Leuten ein Gespräch zu führen, die vielleicht bereit wären, uns etwas zu erzählen, was sie der Polizei verschwiegen haben. Etwas, das entscheidend sein und dazu führen könnte, dass China aus dem Gefängnis freikommt.«
»Deborah, bitte glaub nicht -«
»China ist meine Freundin«, sagte sie leise und heftig. »Und ich werde ihr helfen. Sie war für mich da, Simon. Damals in Kalifornien. Sie war der einzige Mensch -« Deborah brach ab und schüttelte mit einem Blick zur Decke den Kopf, als könnte sie damit nicht nur die Erregung, sondern auch die Erinnerung abschütteln.
St. James wusste, was ihr durch den Kopf ging. China war in jenen Jahren, als er Deborah im Stich gelassen hatte, als Seelenfreundin und Vertraute für sie da gewesen. Und ohne Zweifel war sie auch da gewesen, als Deborah sich in Thomas Lynley verliebt hatte, und vielleicht hatte sie mit Deborah zusammen diese Liebe und ihre traurigen Folgen beweint.
Er wusste dies, aber er konnte es im Moment so wenig ansprechen, wie er sich vor aller
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