12 - Wer die Wahrheit sucht
Moment nicht mit ihr zu erörtern brauchte. Er sagte: »Ich würde mir gern den Weg anschauen, den ihr Bruder an dem Morgen zur Bucht hinuntergegangen ist, Miss Brouard.«
Sie sagte: »Er ist gleich östlich vom Verwalterhaus. Ich rufe bei den Duffys an und sage ihnen Bescheid, dass Sie meine Zustimmung zur Besichtigung haben.«
»Ist es eine private Bucht?«
»Nein, nein. Aber wenn Sie am Verwalterhaus vorbeikommen, wird Kevin Sie bemerken. Er ist sehr um unsere Sicherheit besorgt. Ebenso seine Frau.«
Aber nicht besorgt genug, dachte St. James.
10
St. James traf Deborah unter den Kastanien an der Auffahrt wieder. Sie berichtete ihm von ihrem Gespräch im japanischen Garten und zeigte dabei nach Südosten. Zu seiner Erleichterung schien ihre frühere Verstimmung vergessen, und er musste wieder einmal daran denken, wie ihm sein Schwiegervater Deborah beschrieben hatte, als er - mit, wie er hoffte liebenswerter, altmodischer Förmlichkeit - um ihre Hand angehalten hatte. »Deb ist ein Rotschopf, vergiss das nicht, mein Junge«, hatte Joseph Cotter gesagt. »Sie wird dir ganz schön die Hölle heiß machen, aber dafür ist sie überhaupt nicht nachtragend.«
Sie hatte ihre Sache mit dem Jungen gut gemacht. Sie war scheu, aber ihr mitfühlendes Wesen öffnete ihr den Zugang zu anderen Menschen, der St. James immer verschlossen geblieben war. Diese Gabe der Empathie bewährte sich in ihrem Beruf - die Menschen waren viel eher bereit, sich fotografieren zu lassen, wenn sie wussten, dass die Person hinter der Kamera ein Mensch wie »du und ich« war - so wie sein ruhiges Temperament und seine analytische Denkweise ihm in seiner Arbeit zugute kamen. Und ihr erfolgreiches Gespräch mit Stephen Abbott unterstrich die Tatsache, dass in der gegebenen Situation mehr nötig war als Technik und gute Laborarbeit.
»Diese andere Frau, die dann nach vorn kam und Erde ins Grab warf«, schloss Deborah, »die mit dem riesigen Hut, war also offenbar die letzte Geliebte. Sie gehörte nicht zur Familie, auch wenn sie allem Anschein nach hoffte, eines Tages dazuzugehören.«
»›Sie haben gesehen, was sie getan hat‹«, murmelte St. James. »Wie hast du diese Bemerkung des Jungen verstanden, Deborah?«
»Was sie getan hat, um attraktiv zu wirken, vermute ich«, antwortete Deborah. »Ich meine, es war ja nicht zu übersehen, nicht wahr? Auch wenn man dergleichen hier nicht so häufig sieht wie in den Staaten, wo ein großer Busen anscheinend die fixe Idee der ganzen Nation ist.«
»Du meinst nicht, es heißt, dass sie etwas ganz anderes ›getan‹ hat?«, fragte St. James. »Zum Beispiel, ihren Geliebten getötet, als der ihr eine andere Frau vorzog?«
»Weshalb hätte sie das tun sollen, wenn sie hoffte, er würde sie heiraten?«
»Vielleicht musste sie ihn töten.«
»Warum?« »Obsession. Eifersucht. Rasende Wut, die sich nur auf eine Art stillen lässt. Oder vielleicht auch etwas viel Simpleres: Vielleicht hatte er sie in seinem Testament bedacht, und sie musste ihn töten, bevor er Gelegenheit hatte, es zu ändern.«
»Du vergisst das Problem, über das wir schon gesprochen haben«, wandte Deborah ein. »Wie soll eine Frau es geschafft haben, Guy Brouard diesen Stein in den Hals zu stoßen, Simon?«
»Da müssen wir auf Chief Inspector Le Gallez' Kusstheorie zurückgreifen«, sagte St. James, »so unwahrscheinlich sie sein mag. ›Sie hatte ihn verloren‹. Gab es eine andere Frau?«
»Sicher nicht China«, erklärte Deborah.
St. James hörte den überzeugten Ton. »Du bist also ganz sicher.«
»Sie hat mir erzählt, dass sie vor kurzem mit Matt Schluss gemacht hat. Sie liebte ihn seit Ewigkeiten, seit sie siebzehn war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich so schnell mit einem anderen Mann einlassen würde.«
Das führte auf gefährliches Gelände, das nicht nur Deborah, sondern auch China River vertraut war. Es war noch gar nicht so lange her, dass Deborah sich von ihm getrennt und einen anderen Mann gefunden hatte. Sie hatten nie darüber gesprochen, wie schnell sie sich Thomas Lynley zugewandt hatte, aber das hieß nicht, dass ihnen nicht beiden klar war, welche entscheidende Rolle ihr Schmerz und ihr Zustand innerer Bedürftigkeit dabei gespielt hatten.
Er sagte: »Aber gerade jetzt wäre sie doch anfälliger denn je. Könnte es nicht sein, dass sie ein Abenteuer brauchte - das Brouard vielleicht weit ernster nahm als sie -, um sich wieder aufzubauen?«
»Nein, das entspricht eigentlich nicht ihrer
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