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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Art.«
    »Aber nur mal angenommen -«
    »Gut, nur mal angenommen... Aber sie hat ihn nicht getötet, Simon. Du wirst zugeben, dazu müsste sie erst mal ein Motiv haben.«
    Das gab er gern zu. Trotzdem waren vorgefasste Meinungen seiner Erfahrung nach so oder so gefährlich. Er sagte deshalb am Schluss seines Berichts über das Gespräch mit Ruth Brouard, vorsichtshalber: »Sie hat im ganzen Haus nach China gesucht. Aber sie war nirgends zu finden.«
    »Sagt sie«, entgegnete Deborah. »Es könnte doch sein, dass sie lügt.«
    »Das ist richtig. Die Rivers waren nicht die einzigen Gäste im Haus. Adrian Brouard war auch da.«
    »Hätte er denn einen Grund gehabt, seinem Vater nach dem Leben zu trachten?«
    »Ausschließen können wir es nicht.«
    »Sie ist seine Tante«, sagte Deborah. »Und in Anbetracht ihrer Biografie - des Schicksals ihrer Eltern, des Holocaust - würde sie wahrscheinlich vor fast nichts zurückschrecken, um einen Angehörigen ihrer Familie zu schützen. Oder siehst du das anders?«
    »Nein.«
    St. James begleitete sie durch die Bäume zu dem Fußweg, der sie nach Ruth Brouards Beschreibung zu der Bucht bringen musste, wo ihr Bruder jeden Morgen geschwommen war. Als sie an dem kleinen Haus vorbeikamen, das er von Ruth Brouards Fenster aus gesehen hatte, bemerkte er, dass zwei der Fenster auf den Fußweg führten. Gut möglich, dachte er, dass das Verwalterehepaar, das, wie er gehört hatte, hier lebte, den Informationen, die er von Ruth Brouard erhalten, etwas hinzufügen konnten.
    Als der Weg sich tiefer in den Wald schlängelte, wurde es kühler und feuchter. Dank der natürlichen Fruchtbarkeit des Landes oder zielstrebigem menschlichem Einwirken, gedieh hier üppiges Grün, das den Pfad vom umliegenden Land abschirmte. Direkt am Wegrand standen dichte Rhododendronbüsche, die mit einem halben Dutzend verschiedener Farnarten abwechselten. Der Boden war weich von liegen gebliebenem Herbstlaub, und oben breiteten sich die kahlen Äste der Kastanien aus, die im Sommer einen grünen Tunnel bildeten. Es war still, nur das leise Geräusch ihrer Schritte war zu hören.
    Aber so blieb es nicht lange. St. James bot gerade seiner Frau die Hand, um ihr über eine Pfütze zu helfen, als kläffend ein struppiger kleiner Hund aus dem Gebüsch hervorschoss.
    »Hoppla!« Deborah fuhr erschrocken zusammen, dann lachte sie. »Ach, ist der nicht süß? Komm her, du kleiner Schlingel. Wir tun dir nichts.«
    Sie streckte dem Tier die Hand hin. Im selben Moment brach ein Junge in einer roten Jacke durch die Büsche, packte den Hund und nahm ihn auf den Arm.
    »Entschuldigung!«, sagte St. James lächelnd. »Wir haben deinen Hund anscheinend erschreckt.«
    Der Junge blickte stumm von Deborah zu St. James. Der Hund bellte weiter.
    »Miss Brouard sagte uns, dass das hier der Weg zur Bucht ist«, bemerkte St. James. »Sind wir noch richtig, oder sind wir irgendwo falsch abgebogen?«
    Der Junge schwieg immer noch. Er sah ziemlich schmuddelig aus, mit fettigem Haar, das ihm am Kopf klebte, und schmutzverschmiertem Gesicht. Die Hände, die den Hund hielten, waren schwarz vor Dreck, und seine dunkle Hose hatte über dem Knie einen Fettfleck. Er wich ein paar Schritte zurück.
    »Wir haben dich hoffentlich nicht auch erschreckt?«, sagte Deborah. »Wir dachten, hier wäre weit und breit keine -«
    Sie brach ab, als der Junge auf dem Absatz kehrtmachte und wieder in die Büsche floh. Der zerfledderte alte Rucksack, den er auf dem Rücken trug, hüpfte auf und nieder wie ein Sack Kartoffeln.
    »Was war denn das?«, fragte Deborah verwundert.
    St. James war genauso verwundert. »Das werden wir herausfinden müssen.«
    Durch eine Pforte in der Mauer, in einiger Entfernung von der Auffahrt gelangten sie auf die schmale Straße. Die Autos mit den Trauergästen waren abgefahren, so dass der Weg offen vor ihnen lang und sie den Abstieg zur Bucht etwa hundert Meter vom großen Tor entfernt, mühelos fanden.
    Zwischen Wäldern und mit Steinmauern befestigten Hängen, zu deren Füßen ein Bach plätscherte, führte der Weg in steilen Serpentinen abwärts, zu breit, um als Fußweg, zu schmal, um als Straße gelten zu können. Hier gab es keine Häuser, nur ein einsames Hotel, das über den Winter geschlossen war. Im Schatten der Bäume stand es versteckt in einer Mulde am Hang.
    Unten in der Ferne wurde der Ärmelkanal sichtbar, sein Wasser war von dem bisschen Sonnenlicht gesprenkelt, das die Wolkendecke zu durchdringen vermochte.

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