12 - Wer die Wahrheit sucht
herausholen.«
»Wie tief unten ist es?«, fragte er.
»Höchstens dreißig Zentimeter, würde ich sagen. Wenn du willst -«
»Hier.« Er reichte ihr ein Taschentuch.
Um den Gegenstand erreichen zu können, musste sie ihr Bein in eine Öffnung zwängen. Sie tat es und schob sich weit genug hinunter, um den Gegenstand, den sie von oben gesehen hatte, zu fassen zu bekommen und herausholen zu können.
Es war ein Ring. In ihrer offenen Hand hielt Deborah ihn, auf das Taschentuch gebettet, ihrem Mann zur Begutachtung hin.
Er schien aus Bronze zu sein, der Größe nach für einen Mann bestimmt. Geschmückt war er mit einem Totenkopf über gekreuzten Knochen. Auf dem Schädel standen die Zahlen 39/40, darunter waren vier Wörter in deutscher Sprache eingraviert. St. James kniff die Augen zusammen, um sie erkennen zu können: Die Festung im Westen.
»Aus dem Krieg«, meinte Deborah, während sie den Ring musterte. »Aber er hat bestimmt nicht die ganze Zeit hier gelegen.«
»Nein. Da wäre er in einem anderen Zustand.«
»Aber was...?«
St. James schlug das Taschentuch um den Ring, ließ ihn aber in Deborahs Hand liegen. »Er muss untersucht werden«, sagte er. »Le Gallez wird ihn auf Fingerabdrücke prüfen wollen. Viel wird nicht drauf sein, aber schon ein Teilabdruck wäre eine Hilfe.«
»Wie ist es möglich, dass sie den übersehen haben?«, fragte Deborah, und St. James entnahm ihrem Ton, dass sie keine Antwort erwartete.
Dennoch sagte er: »Le Gallez genügt offenbar die Aussage einer alten Frau, die nicht einmal eine Brille trug. Ich denke, wir können ruhig davon ausgehen, dass er nicht mit übergroßem Eifer nach Hinweisen suchte, die ihre Aussage widerlegen könnten.«
Deborah blickte zu dem kleinen weißen Bündel in ihrer Hand hinunter und sah dann ihren Mann an. »Der Ring könnte ein Beweisstück sein«, sagte sie. »Gegen die Haare, die sie gefunden haben, gegen den Fußabdruck und die Zeugenaussagen, die vielleicht gelogen sind. Mit dem Ring könnte sich alles ändern, meinst du nicht, Simon?«
»Vielleicht, ja«, stimmte er zu.
Margaret Chamberlain war hoch zufrieden, dass sie auf einen Termin für die Testamentseröffnung unmittelbar nach dem Empfang gedrungen hatte. »Ruf den Anwalt an, Ruth«, hatte sie am Vortag zu ihrer ehemaligen Schwägerin gesagt. »Sag ihm, er soll nach der Beerdigung herkommen.« Als sie daraufhin von Ruth gehört hatte, dass Guys Anwalt sowieso an den Feierlichkeiten teilnehmen würde - noch so eine von Guys lästigen Inselbekanntschaften, um die man sich bei der Beerdigung würde kümmern müssen -, hatte sie das ganz hervorragend gefunden. Das war Schicksal, eindeutig. Nur für den Fall, dass ihre Exschwägerin vorhatte, ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen, hatte Margaret sich den Mann gleich selbst vorgeknöpft, als sie ihn am Büfett beim Verspeisen eines Krabbenbrötchens entdeckt hatte. Miss Brouard, teilte sie ihm mit, wünsche die Testamentsverlesung unmittelbar nach dem Empfang, sobald der letzte Gast gegangen war. Er habe doch die erforderlichen Unterlagen bei sich? Ja? Wunderbar. Und würde es irgendwelche Schwierigkeiten bereiten, die Einzelheiten durchzugehen, sobald man ungestört sei? Nein? Bestens.
Nun waren sie also im Wohnzimmer versammelt. Die Zusammensetzung der Gruppe allerdings gefiel Margaret gar nicht.
Ruth hatte auf Margarets Betreiben hin nicht nur mit Guys Anwalt Verbindung aufgenommen. Sie hatte zu der Testamentsverlesung außerdem eine Runde von Leuten zusammengerufen, die nichts Gutes ahnen ließ. Es konnte nur eines bedeuten: Ruth kannte den Inhalt des Testaments und wusste, dass es Vermächtnisse an Personen enthielt, die nicht zur Familie gehörten. Warum hätte sie sonst einen Kreis praktisch wildfremder Leute zu diesem ernsten familiären Anlass gebeten? Ganz gleich, wie liebevoll Ruth sie begrüßte und ihnen ihre Plätze zuwies, es waren Fremde, jedenfalls in den Augen Margarets, die jedem diesen Stempel aufdrückte, der mit dem Verstorbenen nicht verwandt oder verschwägert war.
Zu diesen Fremden zählten auch Anaïs Abbott in voller Kriegsbemalung und ihre Tochter, die eine im schwarzen Kostümchen, dessen Rock sich hauteng um den kleinen Hintern schmiegte, die andere in einem Bolerojäckchen, in dem sie wie ein Zirkusaffe aussah. Der mürrische Sohn war anscheinend verschwunden, denn während sich die Gesellschaft im oberen Wohnzimmer versammelte, unter einem weiteren von Ruths grässlichen Stickbildern aus dem
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