120, rue de la Gare
schien. Dann verabschiedete ich mich.
Ich stieg die abweisende Marmortreppe der nahegelegenen Bibliothek hoch. Marcs Zettel mit de Sades Bibliographie in der Hand, betrat ich den totenstillen Lesesaal. Ein Angestellter händigte mir mit finsterem Blick die gewünschten Bände aus.
Ich fing gleich mit dem richtigen an. Die Anfänge des Gruselromans in Frankreich von Maurice Ache öffnete sich wie von selbst auf der gewünschten Seite. Jemand hatte einen Zettel in dem Buch vergessen. Erfreut erkannte ich Colomers Schrift.
Vom Lyon, las ich, kommt man über den göttlich-teuflischen Markis zu dem großartigsten seiner Werke. Vom Lyon... Markis... grosartigsten. Bob hatte das Rechtschreibtalent von seinen Eltern geerbt. Ich kannte diese Schwäche. Jedenfalls bürgten die Fehler für die Echtheit des Gekritzels.
Mein Mitarbeiter hatte in den Büchern über den göttlichen Marquis die Lösung eines Rätsels gesucht... und gefunden. In der Aufregung hatte er den Zettel vergessen.
Ja, er hatte die Lösung gefunden.
Am Rande hatte sein Fingernagel — fieberhaft und triumphierend, nehme ich an — einen Satz gekennzeichnet:
Unerreicht in der Literatur, vier Jahre vor dem Erscheinen des ersten Romans von Ann Radcliffe und elf vor dem berühmten Mönch von Lewis, hat dieses großartige Werk...
Die Rede war von Die 120 Tage von Sodom.
120... Eine Hausnummer? In welcher Straße? Rue de la Gare?
Nein. Florimond Faroux’ Telegramm war eindeutig. Es gab keine 120, Rue de la Gare.
Ich nahm mir wieder Colomers Zettel vor.
Vom Lyon kommt man...
Die Wörter Gare und Lyon tanzten vor meinem Auge einen Paso doble. Und plötzlich kam mir eine Idee: Hieß die Straße Rue de la Gare oder Rue de (la Gare de) Lyon?
Endlich kam etwas Licht in die Sache. Abgesehen von dem Drang der beiden Sterbenden, mir eine Adresse zu nennen... mehr eine Geheimformel als eine klare Information...
Rue de Lyon. Ich kannte jemanden, der in dieser Straße in Paris wohnte. Jemanden, um den ich mich die ganze Zeit seit meiner Heimkehr schon kümmern wollte. Diese Person wohnte zwar nicht in der Nr. 120, sondern in der 60. Die Hälfte von 120, rein zufällig. Wie die zwei Hälften des Charakters des Marquis de Sade. Er war gleichzeitig göttlich und teuflisch gewesen, wie Colomer notiert hatte. Oder, mit anderen Worten, halb gut und halb schlecht, halbe-halb e, fifty-fifty.
Dieses Gedankenspiel war nicht so unsinnig, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen könnte. Es entsprach meinem Bedürfnis, in dem Puzzle einen Platz für Hélène Chatelain zu finden, meiner ehemaligen Sekretärin. Ob zu recht oder zu unrecht, jedenfalls hatte ich das Gefühl, daß sie irgendwie mit dem Fall in Zusammenhang stand. Wenn auch nicht direkt mit Colomers Tod, so doch mit den geheimnisvollen Verwicklungen, die meinem Mitarbeiter den tragischen Tod gebracht hatten. Denn ich konnte auch nicht vergessen, daß einer der beiden Sterbenden — der Mann ohne Gedächtnis im Stalag — die rätselhafte Adresse mit dem Vornamen „Hélène“ gewürzt hatte.
Sicher, meine Sekretärin konnte diesen Namen nicht für sich ganz allein beanspruchen. Um die Wahrheit zu sagen: Nicht einen Augenblick war mir die Idee gekommen, daß Hélène — „meine Hélène“ — die Kriegsgefangenennummer 60 202 gekannt haben könnte. Aber dann hatte Colomer dran glauben müssen. Und er hatte Hélène gekannt und ebenfalls von der Rue de la Gare gesprochen. All diese Zufälle waren zumindest seltsam und ließen mich die Gleichung Rue de la Gare = Rue de Lyon aufstellen. Sie war weder überflüssig noch besonders scharfsinnig, sondern höchst ökonomisch. Und sie bestärkte aufs schönste meine Vermutung.
Mit roten Ohren beendete ich die Lektüre der sadistischen Schriften, ohne Colomers Zettel in dem aufgeschlagenen Buch zu vergessen. In einem Café verfaßte ich einen neuen Brief an Florimond Faroux. Jetzt lautete der Text:
Telegramm erhalten. Danke. Beschatten und bewachen Sie Hélène Chatelain, meine Sekretärin, wohnhaft 60, rue de Lyon.
Mit Hilfe eines dieser Journalisten, die man ständig irgendwo trifft, trat der Brief noch am selben Nachmittag seine Reise an.
11
Der Mörder
Gegen Mittag ließ ich mich wieder im Hospital blicken. Niemand schien meine Abwesenheit bemerkt zu haben. Auch die Krankenschwester, der das nicht entgangen sein konnte, machte keine Bemerkung darüber. Als ich ihr im Hof begegnete, wünschte sie mir nur einen guten Morgen.
Genauso unbemerkt, wie
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